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Flüchtlingshilfe als Nabelschau

KOMÖDIE Dialoge mit humorvollen Spitzen: In „Willkommen“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz im Renaissance-Theater ringen die Bewohner einer WG darum, ob sie einen Flüchtling aufnehmen sollen

WG-symptomatisch fließen offene Rechnungen in die politische Diskussion ein

von Linda Gerner

„Zwei Schwestern wären doch auch gut. Überhaupt Frauen? Oder Schwule?“, fragt Banker Jonas seine Mitbewohner. Eine neue Person soll in die Wohngemeinschaft einziehen. Das will diskutiert werden, in WG-Castings steckt viel Konfliktpotenzial. Es geht darum, Personen zu finden, die man morgens nach dem Aufstehen und abends vor dem Schlafengehen ertragen kann. Wenn dann ein Mitbewohner während seines Auslandsjahrs sein Zimmer an Geflüchtete geben möchte, geht es auch um Werte: Nächstenliebe und Toleranz trifft auf Pflichtgefühl und Vorurteile.

„Oder Transgender? Oder ein afghanischer Zwerg, der auf den Händen laufen kann?“, antwortet Benny seinem Mitbewohner Jonas sarkastisch. Geflüchtete in eine WG aufzunehmen sei schließlich kein Besuch im Tierheim, wo der erste zutrauliche Dackelwelpe mit nach Hause genommen wird. Benny sieht darin vielmehr eine geeignete Integrationsmöglichkeit. Allerdings ist er gar nicht direkt betroffen, denn er verbringt das Jahr in den USA.

Miteinander Tür an Tür zu wohnen, statt anonym Geld- oder Kleider zu spenden: Plötzlich ist dieses abstrakte Wort „Willkommenskultur“ nah und persönlich. Das schwant den Bewohnern der fünfköpfigen WG, die Lutz Hübner und Sarah Nemitz in „Willkommen“ bei ihrem monatlichen Kochabend zeigen. Im Gegensatz zu Simon Verhoevens Filmkomödie „Willkommen bei den Hartmanns“, in dem ein Geflüchteter in eine deutsche Familie aufgenommen wird, steht im Theaterstück die Entscheidung der WG noch aus. Die Autoren Hübner und Nemitz wollten einen „innerdeutschen Diskurs“ auf die Bühne bringen: Welche Meinungen, Gefühle, Hoffnungen und Ängste gibt es bei den Menschen in Deutschland?

Eine WG bietet das geeignete Setting: eine private Wohnsituation, aber ohne verwandtschaftlich definierte Menschen, dazu die Grundidee: jemand Fremdes wird integriert, gehört dann zur WG-Familie. Die ersten Reaktionen am Küchentisch: Wow, tolle Idee. Doch schnell bröckelt die erste Begeisterung, Zweifel kommen auf: Was bedeutet das konkret? Allerlei Fragen – vom Frauenbild der Flüchtlinge über Lärmtoleranz bis hin zu möglichen Traumata werden dabei angerissen.

Die Argumente der fünf Charaktere sind durch Diskussionen im Freundeskreis der Autoren inspiriert. Das Thema hätte alle beschäftigt, besonders aufgrund der „konträren Gefühle“, die es hervorrufe, sagt Sarah Nemitz. Nach der Silvesternacht in Köln 2015 sei die anfängliche Euphorie der Willkommenskultur bei vielen abgeklungen. Nemitz hat das bei Freunden wie bei sich selbst beobachten können: „Auf der einen Seite denkt man: ‚Kommt alle her‘, denn die Bilder machen einen betroffen. Doch es kommen andere Gefühle hoch, wenn man mit einem jungen Mädchen an der Seite über die Straße geht und du merkst, wie sie teilweise angestarrt wird“, so Nemitz.

Diese Haltung spiegelt sich in der Verwaltungsangestellten Doro wider. Sie positioniert sich als Einzige klar gegen Geflüchtete in der WG. Arabische Männer könne sie nicht ausstehen, aufgrund ihrer „Überzeugung etwas Besseres zu sein, bloß weil da was zwischen den Beinen baumelt“. Draußen würde sie so was natürlich nicht sagen, da sei sie „tolerant und vernunftgesteuert“, doch zu Hause, im Privaten, könne sie offen über diese Gefühle sprechen.

In Stammtischparolen driftet „Willkommen“ dabei nicht ab, auch sind die Dialoge mit humorvollen Spitzen aufgelockert. WG-symptomatisch fließen Lästereien und offene Rechnungen in die politische Diskussion ein. „Fronterfahrung“ in WGs hätten Hübner und Nemitz eben auch, kennen das gemeinsame Debattieren am Küchentisch. Daher wissen sie: Nicht immer werden Lösungen gefunden, das Theaterstück endet offen. „Alle sind ratlos, aber haben kapiert, dass sich etwas ändern wird. Was das sein wird, werden sie rauskriegen, sobald sie ihre Überforderung überwunden haben“, so Hübner.

Ertappt fühlen können sich die Zuschauer dann – oder auch verstanden: „Es gibt keinen Menschen ohne Ressentiments“, sagt Hübner. Sei es, dass man eine Sprache nicht mag oder dass man prinzipiell gerne mit einem Geflüchteten zusammenleben möchte, „aber eben lieber mit einem Rechtsanwalt“. Lutz Hübner ist derzeit der meistgespielte Gegenwartsdramatiker in Deutschland. Seine Theaterstücke schreibt der 53-Jährige häufig in Koproduktion mit seiner Frau Sarah Nemitz. In Doppelpass-Manier werden Jugendtheater-, Opern- oder Komödientexte produziert: Weiß einer von ihnen bei einer Szene nicht weiter, landet sie auf dem Schreibtisch des anderen. Essenziell ist für die in Berlin lebenden Dramatiker dabei Humor. Betroffenheitstheater sollte „Willkommen“ nicht sein. „Wir hatten das Gefühl, dass man das Thema mit Leichtigkeit betrachten, ernste Positionen vertreten muss, aber kein apokalyptisches Theater machen“, sagt Hübner.

Platt wird es dadurch nicht, erreicht aber wohl leichter ein Publikum, für das Hübner häufig – und gerne schreibt: Jugendliche. „Da sitzt dann ein extrem unhöfliches Publikum. Etwa bei einer Zehn-Uhr-morgens-Vorstellung, alle sind ins Theater gekarrt worden und haben null Erwartung. Ob man die kriegt oder ob sie abkippen, das fand ich immer extrem spannend“, sagt Hübner. Überzeugend müsse man dann sein – als Autor, als Schauspieler: „Die Geschichte muss packen, die Pointendichte stimmen.“ Außerdem kämen bei Jugendlichen alle Themen der Gesellschaft ungefiltert an. „Durch ein Theaterstück kann man sie ihnen zur Diskussion vorsetzen“, sagt Hübner. Nun also Willkommenskultur in Deutschland – mit Streit, mit Bier, mit wortgewandtem Tischtennis.

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