Angesagte Musik in Kirchen: Huldigt den Noisegöttern!
Auch für Heiden und Abtrünnige erfüllen Gotteshäuser in Berlin ihren Sinn: Als Konzertorte sind sie immer angesagter. Selbst die Hipster pilgern hin
Kürzlich vor der Sophienkirche in Mitte: Alles, was in der Berliner Popszene etwas auf sich hält, pilgert Richtung Gotteshaus. Mehrere hundert Besucher stehen brav in der Schlange vor der Kirche, trinken Bier und unterhalten sich, warten in in hippen Dresses mit Hochwasserhosen, Bomberjacke und Undercut-Frisur.
Die britische Avantgarde-Band Nurse With Wound gibt ein Konzert, unter der Kirchenkuppel ist später experimentelle Elektronik und Krach zu hören, das Publikum im vollen Saal wiegt auf Kirchenbänken mit.
In diesen Tagen, während des Kirchentages, mögen die heiligen Hallen wieder ihrer eigentlichen Bestimmung nachkommen, den Rest des Jahres werden sie in Berlin aber auch oft zu Konzertsälen umfunktioniert, da sind sie Veranstaltungsorte wie das SO36 oder das Huxley's auch. Im gottlosen Berlin, in dem über 60 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner konfessionslos sind, ergibt es natürlich Sinn, dass man die Kirchen rockt.
Dass Gotteshäuser als besondere Konzertorte immer beliebter werden, zeigt die Eventreihe, die die Italienerin Manuela Benetton im Frühjahr gestartet hat. Nach dem ausverkauften Abend mit der Experimentalcombo Nurse With Wound holt die aus Turin stammende Veranstalterin am Mittwoch die nächste Legende nach Berlin: Masami Akita alias Merzbow tritt dann in der St.-Elisabeth-Kirche auf – für Fans, die in dem seit 1979 aktiven Musiker einen Noise-Elektronik-Gott sehen, ein wahrhaft würdiger Ort.
Am Mittwoch, den 31. Mai, tritt um 20 Uhr die japanische Electronic-Noise-Legende Merzbow alias Masami Akita in der St.-Elisabeth-Kirche (Invalidenstr. 3) auf. Auch Keiji Haino und Balázs Pándi werden Experimentelles und Improvisiertes zum Besten geben. Tickets für das Konzert kosten im Vorverkauf 19,20 Euro.
Für Organisatorin Benetton sind Kathedralen nahezu ideale Locations: „Ein Konzert in einer Kirche ist ein völlig anderes Erlebnis als an einem anderen Ort“, erklärt sie, „die Leute gehen mit einer anderen Haltung in ein solches Konzert. Sie sind ruhiger und fokussierter. Sie respektieren den Künstler in einem solchen Ambiente viel mehr.“
Weinen in Reihe eins
Benetton ist seit Ende der Nullerjahre an der Spree, seit 2013 veranstaltet sie eigene Konzertreihen, meist mit experimenteller elektronischer Musik. Zunächst hat sie die Bands in die Kantine am Berghain, ins NK Projekt oder ins ausland geholt, vergangenes Jahr dann lotste sie den US-Minimal-Pionier Terry Riley und dessen Sohn Gyan Riley in die Zionskirche. „Das war ein total berührendes Konzert, manche Menschen in den ersten Reihen haben geweint“, erzählt sie. Das habe sie bestärkt, die sakralen Räume weiterhin für Livekonzerte zu nutzen.
Das Phänomen, Kirchen als Veranstaltungsorte zu nutzen, ist alles andere als neu. In der DDR und in Ostberlin waren die evangelischen Kirchen ohnehin Orte, an denen zum Beispiel Punk- und Jazzmusik stattfinden durfte. Und in Westberlin haben sich schon in der Vorwendezeiten Kirchen für weltliche Musik geöffnet, die Passionskirche etwa veranstaltet seit den frühen Achtzigern Konzerte.
„Es fing an mit Jazzkonzerten“, sagt Sigrid Künstner, die für die Passionskirche und die Heilig-Kreuz-Kirche die Musikveranstaltungen managt, „es gab damals eine Konzertreihe namens ‚Concerts in Passion‘.“ In beiden Kirchen finden heute vor allem Singer-Songwriter- und Global-Pop-Konzerte statt, Veranstalter wie Loft, Trinity und Weltkonzerte buchen die Säle. Mit der im Winter laufenden Reihe „Nachtklänge“ – meditative Musik – hat man auch ein eigenes Format entwickelt.
Wären die Popkonzerte nicht, würden die sakralen Räume oft leer stehen. „Ich glaube, dass die Kirchen auch ihre Verantwortung spüren“, meint Künstner. „Wenn die Räume nur einmal in der Woche für den Gottesdienst öffnen würden, wäre das auch unökonomisch.“ Denn, ja, eine Einnahmequelle ist die Vermietung natürlich auch. Für kommerzielle Veranstalter kosten Künstners Kirchen in der Regel gut rund 1.100 Euro pro Abend, für soziale Initiativen aber gibt es Vergünstigungen.
Ob es stilistisch und inhaltlich No-gos gibt? „Bei manchen Konzerten hat man schon Bauchschmerzen“, sagt Künstner, „Heavy Metal oder Gothic würden eher nicht in unser Profil passen.“ Nun, aber für diese Stile gibt es ja vielleicht noch ein anderes leerstehendes Gotteshäuschen in der Hauptstadt der Atheisten und Agnostiker.
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