Marcel Reif und der Fußball: Das Spiel seines Lebens
Als Kommentator verband er Kompetenz und Witz auf ungeahnte Weise. Dennoch war Fußball für Marcel Reif lange „nur Fußball“. Bis heute?
Es ist am Ende nur Fußball, sagt er bei fast jedem Spiel. Zu den anderen. Aber im Grunde sagt er es zu sich selbst. Und nun ist er 67 und nun sagt Marcel Reif: „Das war ein schöner Satz, dass es doch bloß Fußball ist. Aber er stimmt für mich nicht“.
Nur: Vielleicht stimmt er eben doch.
Aber von Anfang an. Ein politischer Fernsehjournalist will Auslandskorrespondent beim ZDF werden, kriegt den Job nicht und geht 1984 in die Sportredaktion. Er wird als Kommentator von Fußballspielen berühmt. Sein Alleinstellungsmerkmal ist sprachliche Brillanz und eine bis dahin unbekannte Verbindung von Nähe und Distanz zum Gegenstand.
Er liebt das Spiel, aber er traut seiner Bedeutung nicht, weil Fußball ihm was für kleine und große Jungs zu sein scheint. Das bringt er rüber. Und um ganz sicherzugehen, sagt Marcel Reif in seinen Reportagen immer noch: „Es ist am Ende nur Fußball.“ Wie, um sich zu entschuldigen. Um zwischen den Zeilen zu sagen: Ich weiß schon, dass es Wichtigeres gibt, ich bin nur ein Beobachter in dieser Welt der kleinen und großen Jungs.
Und nun steht in seinem autobiografischen Buch „Nachspielzeit“, vor Kurzem bei KiWi erschienen, der Satz: „Ohne Fußball hätte ich mein Leben nicht gelebt.“ Wumm.
Promiquatsch dank Fußball
Müsste er es nicht eigentlich machen wie der berühmte Fußballer Alfredo Di Stéfano und einen marmornen Ball in seinem Garten aufstellen mit der Inschrift: „Dir verdanke ich alles“? „Ökonomisch sowieso“, sagt Marcel Reif, „diesen sozialen Status hätte ich in keinem anderen Sujet erarbeiten können, den Promiquatsch auch nicht.“
Doch erst die Gespräche mit seinem Co-Buchautor Holger Gertz haben ihm bewusst gemacht, dass er auch im Kern seines Wesens ohne Fußball „nicht der wäre, der ich geworden bin“. Der Fußball hat sein Leben nicht begleitet, er hat es gemacht. Seit er mit vier den ersten Ball kickte, seit er dank seines Fußballkönnens als polnisches Einwandererkind in Kaiserslautern integriert wurde.
Reif sitzt auf einem Stuhl in Leipzig, trägt die Haare grau und voll, dazu Brille und „feinen Zwirn“, wie der 08/15-Fußballreporter sagen würde. Also Anzug. Plus Einstecktuch. Er ist die Fußballstimme Deutschlands. War der Vorzeigefußballreporter der Öffentlich-Rechtlichen. Ab Mitte der 90er folgte er den Übertragungsrechten des Fußballs, die immer wertvoller wurden. Und er entsprechend auch. Vom ZDF ging er zum Privatsender RTL, dann zum Bezahlsender Premiere und nach dessen Ende zum Nachfolger Sky. Letztes Jahr hörte er auf und doch nicht auf: Er ist jetzt Fußballexperte bei einem Schweizer Bezahlsender.
Erst war er der Held des kleinen Milieus der sich als progressiv verstehenden Fußballanhänger, irgendwann galt er in der ganzen Branche und Fußballgesellschaft mehrheitlich als bester Kommentator – nicht obwohl, sondern selbstverständlich weil er polarisierte wie kein Zweiter.
Verachtung für den „Zauberer“
Diese Entwicklung wird personifiziert durch Franz Beckenbauer, der Marcel Reif in den Anfängen als „Zauberer“ verachtete, also als nicht befugt und nicht dazugehörig markierte, ihn später aber sehr schätzte. Auch, weil sie dann beim gleichen Sender arbeiteten. Aber speziell, weil Fußball von einer Proleten- und Männerbeschäftigung zu der zentralen Kultur- und Unterhaltungsindustrie für alle Klassen, Bildungsabschlüsse und Geschlechter geworden war.
Der liberale Pragmatiker Beckenbauer merkte, dass sie beide von dieser Entwicklung profitierten, für die es mehrere Gründe gibt, Spätkapitalismus, Unterhaltungsbedarf und so weiter. Ein Wegbereiter war auch die Kulturalisierung des Gegenstands, die im ZDF-Sportstudio von Dieter Kürten und seinen Jungs, darunter Marcel Reif, in den 80er Jahren auf der einen Tischseite begründet wurde. (Auf der anderen Tischseite saß Rolf Töpperwien.)
Davor, die Älteren werden sich erinnern, war Fußballberichterstattung extrem bräsig und die Fernsehkommentatoren waren Minimalisten, die wenig mehr sagten, als „Bonhof – Müller – Tor“.
Den state of the art begründete Reif erst nach seiner ZDF-Zeit. Da wurde er die Verkörperung des Sportstudios, wie es nie war – eine inspirierende Mischung aus Kompetenz, Kultur und Witz. Etwas volkstümlicher formuliert teilte man es Reif per Post so mit: „Unter den Arschgeigen bist du die Stradivari.“
Vermittler für das neue Bildungspublikum
Es wäre übertrieben zu sagen, dass Reif in einem revolutionären Impetus die emanzipatorische Entwicklung des Reportierens durchgesetzt hat. Der Fußball hat sich in dieser Zeit geöffnet, und Reif passte ganz genau in die Lücke hinein und dehnte sie aus. Je mittiger und damit größer der Fußball wurde, desto wichtiger wurde Reif – so rum ist es richtig. Als fachlicher Vermittler für das neue Bildungspublikum mit Ironiebedarf war er ideal.
Gern wird in Deutschland das Fehlen von „kritischem Fußballjournalismus“ beklagt und als mahnendes Beispiel der frühere ARD-Journalist Waldemar Hartmann genannt, angeblich eine „Kumpaneiqualle“. Aber Hartmann hat nur unverbrämter als andere auch in seinem Sinne genutzt, was Fußballjournalismus für die meisten Leute ist: eine Servicedienstleistung. Sie wollen schöne Bilder und Emotionen. Und Antworten von ihren Stars. Die Fragen interessieren keine Sau.
„Wir reden hier nicht über einen Kollegen“, sagt Reif. Er hat eine wunderbare Art, dem Gespräch seine Grenzen zu setzen. Um sie dann selbst auszudehnen und doch über Kollegen zu reden. Marcel Reif hat auch nie ins eigene Nest geschissen. Aber er agierte vom Nestrand aus. Während Hartmann immer klar war, dass er ohne Völler nichts wäre, schaffte Reif es, vom Vermittler zum Subjekt zu werden und selbst zu einem Star.
Kein Pathos-Grabscher
Wenn man jetzt seinem Nachfolger zuhört, dann erkennt man schmerzenden Ohres, wie solitär Reif ist, mit seinem Handwerk der seriös vermittelnden Fachunterhaltung. Weil er die Protagonisten, ihren täglichen Schweiß, ihre Anstrengungen wirklich ernst nimmt. Weil er aber kein Hoch- und Runterjubler und kein unerträglicher Pathos-Grabscher ist, sondern die Balance hält zwischen der Begeisterung für diese Sachen, die es nur im Fußball gibt, und dem Gespür, dass man die Behauptung nicht übertreiben darf, damit sie stimmt. Die Marktschreier wollen den Fußball wichtiger machen, als er ist. Und machen damit sich und vor allem ihn lächerlich. Reif nimmt Fußball ernst, weil er ihn nicht zu wichtig nimmt. Er verstärkt nicht einfach das, was passiert oder was beim Zuschauer ankommt. Er gibt etwas Drittes dazu.
Wenn ihn das Spiel inspiriert, dann merkt man das. Und wenn nicht, auch. Aber in jedem Fall billigt er den Akteuren, sich selbst und auch den Zuschauern eine angemessene Würde zu. Oder in drei Worten: Reif ist souverän. Damit können einige Leute gar nicht umgehen. Das ist der eigentliche Kern der Aversionen, die er auch auslöst.
Reif redet übrigens in einem journalistischen Gespräch völlig normal. Nur halt wie Marcel Reif. Er setzt Pointen, wartet den Applaus ab und moderiert ihn dann mit einem selbstbewussten „Ich bitte Sie“ ab. Er ist ein Mann, der nichts beweisen muss, es aber jederzeit kann. Das ist die Geste. Und die muss man ernst nehmen. Er ist auch ein Mann, der heute weiß, dass nicht die Weltrettung oder sonst was, sondern der Fußball den Kern seiner Existenz ausmacht.
Der Stellenwert des Spiels
Die Frage ist, ob der Fußball nicht längst einen zu großen Stellenwert einnimmt. Früher erzählte man sich das Leben über die Kubakrise, die Mondlandung und den autofreien Sonntag. Heute verorten sich viele Leute biografisch über Momente bei Fußballspielen, speziell bei Weltmeisterschaften.
„Gebenedeit die Generation, die ihre Epoche mit Fußballspielen verknüpfen kann“, sagt Reif, der als Marek Nathan geboren wurde. „Das Leben meines Vaters war mit anderen Ereignissen verknüpft.“ Sein Vater Leon, Pole und Jude, wurde im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen ins Vernichtungslager deportiert – und überlebte, weil ihn in Lemberg ein anderer Deutscher aus dem Zug holte.
Aber nochmal: Engagiertes Leben, politisches Engagement, Impfstoff gegen Krebs, das waren doch die Ziele? „Lassen Sie es gut sein“, sagt Marcel Reif. Und mit dem Gespür für Sound noch mal: „Lassen Sie es gut sein.“ Spannungspause. „Da ist der Fußball kein Widerspruch.“
Vielleicht hat sich der Philosoph Klaus Theweleit getäuscht, als er vor Jahren annahm, das Denken überwintere mangels gesellschaftspolitischer Projekte im Fußball. Oder er sprach nur von sich. Vielleicht ist der Fußball kein Platzhalter für etwas Fehlendes. Vielleicht ist die Frage gar nicht, ob es „nur Fußball“ ist oder „nicht nur Fußball“.
Vielleicht ist Marcel Reif ja der Beweis, dass man sein Leben vom Fußball bestimmen und es dadurch existenziell bereichern oder gar ausfüllen kann. Wenn man so souverän ist, Fußball wirklich ernst zu nehmen – und zu wissen, dass es nur Fußball ist. Vielleicht ist das sogar das Geheimnis.
Und zweifelsohne wäre ein so glückendes Leben ein klarer Fall von Weltverbesserung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht