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Heimkommen Das Verhältnis zur Heimatstadt ändert sich. Das ist auch gut soDie richtige Kulisse zur richtigen Zeit

Aachen Hauptbahnhof: Bitte aussteigen und auch wirklich wahrnehmen Foto: Manngold/imago

von Laila Oudray

Aachen war die Stadt meiner kindlichen Sehnsucht. Ich bin 30 Kilometer entfernt aufgewachsen – in einer Kleinstadt namens Baseweiler. Dort verbrachte ich eine unbeschwerte Kindheit und eine schwierige Jugend. Schon früh floh ich so oft wie möglich nach Aachen. Dort traf ich zum ersten Mal auf linke Studierende, verwickelte mich in meine ersten politischen Diskussionen und begann meine journalistische Laufbahn. Ich fuhr mit Freund*innen, die schon ein Auto besaßen, nach Eupen in Belgien oder nach Maastricht in den Niederlanden. Geschlossene Grenzen kannte ich hier nicht: Weder Ländergrenzen noch die Grenzen der Eltern. In Aachen war ich glücklich.

Doch ich blieb nicht dort. Die Stadt symbolisierte für mich zu sehr meine Jugend mit allen Problemen. Eine Heimatstadt legt quasi schon fest, wer oder was man ist. Das bietet einerseits Halt und Orientierung – man kennt alles und jeden, ist jeden Weg schon einmal gegangen –, doch kann man sich wirklich verändern, wenn man an einem Ort bleibt, wo man schon einen Namen hat? Ich verließ Aachen. Es gab noch viele Städte zu sehen und noch viele Identitäten auszuprobieren. Ich machte mich auf den Weg in die große Welt, studierte in Bonn, arbeitete in Kairo und landete letztendlich in Berlin. Meine Besuche in Aachen wurden seltener. Am Anfang hatte ich noch viele Freunde, mit der Zeit immer weniger. Ich meldete mich nicht mehr, kam nicht vorbei. Meine Heimatbesuche beschränkten sich irgendwann auf meine Familie. Es schien als hätte ich mit Aachen abgeschlossen. Es war mein Heimatort, ich erinnerte mich an die Stadt und dachte, ich kenne sie.

Es sollte eine taz.meinland-Veranstaltung sein, die mich ­Aachen neu sehen ließ. taz.meinland wollte mit Interessierten und Betroffenen über die Entwicklungen im Stadtteil „Aachen Nord“ diskutieren. Seit fast zehn Jahren schon ist das Viertel im Projekt „Soziale Stadt NRW“. Es wurde dort ein besonderer Förderungsbedarf festgestellt, weil der Ort an Armut leidet, an Langzeitarbeitslosigkeit und unter schlechten Wohnungen. Im Projekt kämpft man dagegen mit Investitionen und Baumaßnahmen. Der Vertrag läuft bald aus und es war Zeit, die letzten Jahren Revue passieren zu lassen, um zu erkennen, wie es weitergehen sollte.

Ich sollte moderieren, deswegen reiste ich dorthin. Jeder Schritt wurde zu einem Flashback. Wenn man 19 Jahre an einem Ort gelebt hat, nimmt man ihn eigentlich nur noch durch die Brille der Erinnerung wahr. Bei unserer Veranstaltung wurde mir allerdings bewusst, wie viel ich verpasst hatte. Die Diskussionsteilnehmer*innen erzählten, wie ein neues Stadtteilzentrum gebaut wurde und wie durch ein enges Netzwerk die Initiativen miteinander verbunden waren. Sie berichteten von offenen Kulturräumen, von Projekten, die geglückt und jenen, die schiefgegangen sind. Für mich war es eine kleine Offenbarung, zu merken, wie stark sich alles verändert hat und wie wenig ich davon mitbekommen habe.

Ich habe ein bisschen Heimat verloren und dafür eine Heimat wiedergefunden

Nicht nur die Heimat legt fest, wer man ist. Man legt auch selbst fest, was die Heimat sein soll. Entwicklungen nimmt man entweder gar nicht oder nur widerwillig wahr. Wir glauben alle, dass wir durch die Welt reisen, uns ausprobieren und verändern, aber die Heimatstadt genauso bleibt, wie sie immer war. Der Ort wird zur Kulisse der eigenen Kindheit, ein Requisit für die eigene Erzählung des Lebens. Dabei leben Städte – durch uns, mit uns und ohne uns. Man muss das allgegenwärtige Gefühl von Heimat abstreifen, um den Ort, an dem man aufgewachsen ist, neu zu erleben – und zwar ohne melancholisch zu werden oder alles mit der Vergangenheit zu vergleichen.

Aachen und ich, wir haben uns verändert. Und auch unser Verhältnis zueinander ist ein anderes. Ich sehe die Stadt nicht mehr nur als Ort meiner Hintergrundstory, sondern unabhängig von mir. Somit ist die Stadt wieder interessanter für mich geworden. Ich habe ein bisschen Heimat verloren und dafür eine Heimat wiedergefunden.

An diesem Abend fasste ich einen Vorsatz: Ich werde Aachen jetzt wieder häufiger besuchen – und nicht nur meine Eltern.

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