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Vertrauen Ukrainische Medien sind voller Halbwahrheiten. Wie gehen die Menschen damit um, ohne verrückt zu werden?Kratze nicht am Glanz der Helden

Jugend an die Waffen: seit Kriegsbeginn in der Ostukraine haben sich viele im Land an Schusswaffen ausbilden lassen. Hier zeigen Männer bei Kiew Kindern, wie Gewehre zu bedienen sind Foto: Efrem Lukatsky/ap

Aus Kiew Bernhard Clasen und Grigori Pyrlik

Bei vielen Themen schreiben ukrainische Journalisten angstfrei und zupackend. Ohne ihre Enthüllungen hätte Nikolaj Martynenko im April nicht in einem ukrainischen Untersuchungsgefängnis gesessen. 17 Millionen Dollar soll Martynenko veruntreut haben. 2015 musste er sein Mandat im Parlament niederlegen, weil ihm ukrainische, österreichische und Schweizer Behörden Korruption vorwarfen, doch er ist noch immer so gut mit den Mächtigen vernetzt, dass er nach zwei Tagen wieder aus dem Gefängnis spazierte. Aber er war überhaupt mal drin war, das war eine Sensation. Auch in der Regierung sind sie regelmäßig dran, wenn der Satiriker Wladimir Selenskij in seiner Sendung „Quartal 95“ mit ihnen abrechnet: Präsident Petro Poroschenko, seine Minister. Aber es gibt zwei Themen, da sind die meisten ukrainischen Journalisten ganz zahm: beim Gedenken an die Revolte des Maidan von 2013 / 2014 und beim Krieg im Osten des Landes.Sich in diesen Angelegenheiten zurückzuhalten oder sogar für die Ukraine Partei zu ergreifen, heißt dann „patriotischer Journalismus“.

Alles andere kann gefährlich werden. Vor zwei Monaten zum Beispiel hat der Nationale Rundfunk- und Fernsehrat der Ukraine „Radio Vesti“ verboten, immerhin den größten und beliebtesten Radiosender der Ukraine im Großraum Kiew. Eine Woche vorher hatten sie dem Sender schon in Charkiw die Lizenz entzogen. Der Rat begründete dies unter anderem damit, dass „Vesti“ einmal einen Sprecher der Separatisten live zugeschaltet hatte. Und im Sommer 2016 beleidigte eine Anwältin Maidanaktivisten in einem Interview als „Verrückte Mai­downer“, eine Anspielung auf das „Down Syndrom“. Das war beleidigend, rechtfertigt aber kein Verbot.

Doch wer als ukrainischer Journalist karriereorientiert denkt, sollte nicht am Glanz der Helden des Maidan oder der „Anti-Terror-Operation“ kratzen.

Kein einziges Mal fand sich in den letzten drei Jahren in ukrainischen Medien eine Meldung, die ukrainischen Streitkräfte hätten das Waffenstillstandsabkommen gebrochen. Dies tut angeblich immer nur die andere Seite. In diesem Aspekt hebt sich die freie Presse in der Ukraine kaum von den Internet-Seiten der Separatistengebiete oder russischen Medien ab, die ausschließlich die Ukrainer für Verletzungen der Waffenruhe verantwortlich machen.

Viele Ukrainer merken das und trauen ihren Medien nicht. Sie wollen von Politik nichts mehr wissen und suchen anderswo nach Lebenssinn. Den bieten Sekten, rechtsradikale Vereinigungen, Gesundheitsclubs mit teuren Lebensmitteln und Verschwörungstheoretiker. Hier erhalten vor allem die entwurzelten, traumatisierten und bindungsgestörten Menschen einfache Antworten, die sich aus der Provinz und auf der Flucht vor dem Krieg in die Metropolen aufgemacht hatten. In ihrer neuen Heimat werden sie oftmals ähnlich empfangen wie die deutschen Umsiedler und Aussiedler in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit. Mit Misstrauen und Unmut. Gerade die Binnenflüchtlinge suchen daher nach Gemeinschaft.

Es gibt ein paar Ukrainer und Ukrainerinnen, die verdienen mit dem Verdruss an öffentlichen Halbwahrheiten und der Politikmüdigkeit ganz gut. Orest Zub ist so einer.

Zub hat Jura studiert, verdient sein Geld aber heute als eine dieser ukrainischen Vielfachexistenzen: Business-Consultant, Reiseunternehmer, Weltenbummler, Blogger und Lebensratgeber. Seine Facebookseite hat 24.000 Fans. Als er Anfang 2017 sein Buch „Formel der Produktivität“ in mehreren ukrainischen Städten vorgestellt hat, waren die Säle immer voll. In dem Buch stehen 100 Tipps zum Zeit-Management, Selbstmotivation und der Bekämpfung von Depressionen.

Zub sagt, überleben könne man in der heutigen Medienwelt nur, wenn man auf sie verzichte. „Hören Sie endlich auf, Nachrichten zu lesen oder zu hören. Sie wirken sich nachteilig auf ihr Wohlbefinden aus“, schreibt Zub in seinem Blog „Open Mind“.

Die Autoren

Grigirij Pyrlik, Jahrgang 1989, und Bernhard Clasen, Jahrgang 1957, arbeiten als Journalisten in Kiew.

Drei Stunden würden die Menschen in der Ukraine täglich „Nachrichten und anderen Quatsch“ konsumieren, sagt Zub. Und dann gehe noch mal so viel Zeit drauf, das Gelesene weiterzuerzählen und zu diskutieren. „Sie brauchen positive Emotionen, müssen sich selbst positiv stimmen“, schreibt er im Blog. Ihm habe beim Nachrichtenfasten geholfen, bestimmte Webseiten zu blocken.

Erfährt Zub dann überhaupt noch etwas vom Krieg im Osten? Ist es ihm egal?

Es sei für ihn schwer, den Wahrheitsgehalt von Artikeln und Statistiken festzustellen, sagt Orest Zub. Er kennt Ukrainer, die im Osten des Landes gekämpft haben, und Menschen aus der Ostukraine, die jetzt in Kiew leben. Mit denen rede er. Und alles andere? „Wirklich wichtige Dinge sprechen sich sehr schnell herum“, sagt Zub.

Auch die Radiojournalistin Tatjana Kosjantschuk hält wenig von Nachrichtensendungen. „Journalisten schreiben doch meistens nur negative Nachrichten“, sagt Kosjantschuk. „Diese Meldungen demotivieren mich, irgendetwas zu tun.“ Dabei arbeitet sie als Content Managerin der Internet-Seite von Hromadske Radio, einem Sender, der mit seinen Berichten über die Aktivisten des Maidan groß wurde, der also aus politischem Engagement entstanden ist. Kosjantschuk holt sich ihre Informationen aus Facebook. Wirklich wichtige Ereignisse erfahre sie auch so, von ihrem Freund, der ist Nachrichtensprecher.

Kosjantschuk sagt, sie wolle lieber selbst etwas tun und die Welt zum Besseren verändern, als Zeitungen zu lesen oder Radio zu hören. Deshalb liebe sie positive Nachrichten. „Wenn ich von einem Menschen lese, der Geld für Verletzte gesammelt hat, dann motiviert mich das eher, selbst etwas zu tun, als wenn ich Nachrichten über Verletzte und Getötete lese.“ Sie hat keinen Fernseher, ihre Eltern jedoch schon, und dort laufen ständig Nachrichten. Nach dem Besuch dort sei sie jedes Mal entsetzt, sagt Tatjana Kosjantschuk. Sie fühle sich von einer großen Hoffnungslosigkeit erfasst.

Sie arbeitet selbst gerade an einer Reportage über einen Blinden. „Dieser Mann führt ein weitaus lebendigeres Leben als viele Sehende“, sagt Tatjana Kosjantschuk. „Derartige Geschichten wünschte ich mir viel häufiger in unseren Medien.“ Der Wunsch nach den guten und positiven Geschichten, den gibt es auch im Westeuropa und den USA. Konstruktiver Journalismus nennt sich das da meistens.

Ein paar Journalisten recherchieren allerdings weiterhin unbequeme Geschichten.

„Hören Sie endlich auf, Nachrichten zu lesen oder zu hören.“

Orest Zub, Reiseunternehmer, Blogger und Lebensberater

Aljona Lunkowa arbeitet für STB, einen der größten ukrainischen Fernsehkanäle. Er wird vom Oligarchen Viktor Pintschuk kontrolliert, einem der reichsten und als Schwiegersohn von Expräsident Leonid Kutschma auch einflussreichsten Männer des Landes. Zwar zitieren andere Medien Lunkowas Reportagen und Recherchen oft. Aber viele Zuschauer und Kollegen werfen ihr vor, dem Feind in die Hände zu spielen. Im April 2015 hatte sie enthüllt, wie ukrainische Soldaten Wohnungen von Familien im Kriegsgebiet besetzen und plündern. Sie deckte auch auf, wie erbärmlich Soldaten an der Front leben.

Als 2015 die Verbrechen von Freiwilligen der Einheit „Tornado“ an die Öffentlichkeit kamen, denen Augenzeugen Mord, Verschleppungen und sexuelle Gewalt gegen Gefangene vorgeworfen hatten, machte sich Lunkowa auf den Weg in die Ortschaft, in der „Tornado“ stationiert war, und sprach mit Folteropfern. Das Gehörte schockierte sie. „Ich hoffe nur, dass das dort eine Ausnahme ist und dass unsere Kämpfer in der Mehrheit anständige Leute sind“, sagt Aljona Lunkowa. „Aber genau deswegen muss über derartige Ereignisse berichtet werden, damit die Menschen sehen, dass im Krieg nicht alles erlaubt ist.“

Sie glaubt, ihre Kollegen werden sie mit der Zeit verstehen. „Beruf und Aktivismus sind zwei verschiedene Dinge“, sagt Lunkowa. „Ein Journalist kann Patriot sein, aber es gibt journalistische Standards, die nicht verletzt werden dürfen. Ein patriotischer Journalist ist nichts anderes als ein Propagandist.“

Aljona Lunkowa hat einen wichtigen Unterstützer: ihren Vater. Der sagt, seine Tochter müsse über Fehler der Armee berichten, damit sich diese nicht wiederholen. Er ist Offizier.

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