: Viel Theater um französischen Kunststar
IDENTITÄTSINSZENIERUNG Der Kunstverein in Hamburg zeigt die erste große Retrospektive des berühmten Künstlers Jed Martin – als theatrale Paraphrase auf den Kunstbetrieb und Spiel mit wechselnden Identitäten
von Hajo Schiff
Dem Kunstverein in Hamburg ist es überraschend gelungen, noch vor den großen französischen Ausstellungsinstituten eine erste große Retrospektive von Jed Martin auszurichten. Der berühmte Künstler, dessen Bilder teils zu Millionenbeträgen gehandelt werden, lebt nach einer ereignisreichen Karriere inzwischen so zurückgezogen im 350-Einwohner-Ort Chatelus-le-Marcheix im Departement Creuse, dass manche schon bezweifeln, dass es ihn überhaupt gibt. Doch sowohl das konzeptuelle wie auch das malerische Werk sind äußerst umfangreich.
Begonnen hat der 1975 geborene Künstler mit einer systematischen fotografischen Erfassung industrieller Erzeugnisse, einem etwa 11.000 Bilder umfassenden Katalog gegenwärtiger menschlicher Produktion – einige Beispiele sind unter dem Pseudonym Christopher Williams in der aktuellen Ausstellung zu sehen. Die auch den Ausstellungstitel gebende Werkreihe „Die Karte ist interessanter als das Gebiet“ beginnt um 2009: Digital bearbeitete Michelin-Straßenkarten werden mit Satellitenbildern überlagert, statt der Dinge geht es nun um die Erfassung der Welt mit übermenschlichem Auge. International am bekanntesten sind aber die Gemälde der „Serie einfacher Berufe“ und der „Serie der Unternehmenskompositionen“ mit Porträts von Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, wobei das Motiv „Jeff Koons und Damien Hirst teilen den Kunstmarkt“ leider zerstört wurde.
Das berühmteste Bild von Jed Martin ist ein Porträt des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. Er hat es kurz vor dessen Ermordung gemalt. Das allerdings ist ein etwas seltsames Detail der bis in die Zukunft reichenden Biografie. Denn Michel Houellebecq mag zwar nicht allzu gesund sein, aber er lebt, schreibt und mischt inzwischen selbst im Kunstbetrieb mit. Vergangenes Jahr hat er sich an „Manifesta“ in Zürich beteiligt, kuratiert eigene Ausstellungen und spielt mit seiner Unterwerfung unter den Islam. Jed Martin ist also der, der nicht lebt. Denn tatsächlich ist er die Hauptfigur von Houellebecqs 2010 erschienenem Künstlerroman „Karte und Gebiet“.
Fiktiver Künstler undreale Fiktionen
Die scheinbare Einzelausstellung im Kunstverein ist also eine Gruppenausstellung, die anhand des fiktiven Künstlers von realen Künstlerfiktionen handelt. Mit großem Vergnügen werden von allen Beteiligten verschiedene Rollen gespielt, auch die Künstler und Kuratoren werden hier zu Schauspielern. So wird die Ausstellung zu einer theatralen Fiktion, die mit realen Künstlern besetzt ist. Und die begleitende theatrale Aktion im kooperierenden Deutschen Schauspielhaus tritt aus der Fiktion heraus, indem die reale Leiterin des Kunstvereins, Bettina Steinbrügge, auf der Bühne die mit den üblichen rhetorischen Versatzstücken versehene kunsthistorische Eröffnungsrede hält.
Im gut einstündigen Bühnengeschehen werden Momente und Positionen des Künstlerlebens nachgestellt, wobei sich durchaus der Gedanke einstellt, Jed Martin selbst sei einer der Akteure auf der Bühne. Da alle anschließend in den Kunstverein weiterziehen, dreht sich das Rad der Metaebenen noch einmal, wenn nun der Jed Martin verkörpernde Bühnenkünstler am Kunstort zu seiner dort ja real vorhandenen Kunst befragt wird.
Aber auch, wer nicht an diesen Inszenierungen teilnimmt, kann sich der Doppelbödigkeit nicht entziehen: Das Begleitheft ist von zwei Seiten zu lesen und erläutert alle Arbeiten einerseits im Werkzusammenhang Jed Martins und andererseits als Arbeiten ihrer jeweils „mitspielenden“ Künstler. Auch die angebotenen Führungen lassen die Wahl der Ebene: Houellebecq’sche Fiktion oder mit Identitäten spielende zeitgenössische Kunst. So ist die seltsam distanzierte Serie von Bildern einer scheinbar belanglosen Straßenkurve keine Welterfassung Jed Martins, sondern vom New Yorker Künstler Lutz Bacher. Aber den gibt es auch nicht. Es ist das Pseudonym einer von ihrer Galerie abgeschirmten, seit den 1970er-Jahren aktiven Künstlerin.
Auch die in Kanada lebende deutsche Künstlerin Iris Häusler arbeitet mit zahlreichen Rollen und Bezügen. Seit zehn Jahren kümmert sie sich um die Hinterlassenschaft des 1929 in Deutschland geborenen und nach Kanada emigrierten Autodidakten Joseph Wagenbach. Als Art-brut-Künstlerin und Direktorin der für den zufällig entdeckten Autodidakten gegründeten Stiftung, als Archivarin und Tour-Guide betreut sie die obskuren Dokumente und die eher an andere Künstler erinnernden schmalhohen Bronzegüsse. Unzufrieden mit der Drittklassigkeit ihrer Künstlererfindung hat sie die Präsentation allerdings noch vor der Eröffnung teilweise zerstört – ein Zitat aus der Klischeekiste genialer Künstlerattitüden, die gleichwohl auch Jed Martin gelegentlich auslebte.
Auch hinter dem Künstlernamen Jochen Schmith steht eine sich nur ungern zeigende Künstlergruppe. Hier zeigen sie mit Titelbezug kartenähnliche Bilder, die aus geschredderten Geldscheinen bestehen, auf Picknickdecken fixiert – sie wären auch für Jed Martin als Pläne privatisierter Parks zu verstehen. Als peripherer Raum zwischen Mikrolandschaft und sprachlich kommentierter Kartierung lädt die Installation von Stefan Vogel zur Eroberung ein; daneben kommt die von der Zeichnung ins Plastische ausgreifende Wand des Österreichers Constantin Luser eher wie ein Psychogramm oder Traumatlas daher.
AugenzwinkerndesRollenspiel
Es geht nicht nur um das Verschwimmen von personalen Identitäten. Angesichts einer unüberschaubaren Bildproduktion sind die Bilder mit sich selbst nicht mehr identisch, sie scheinen in endlosen Zitaten ihr Wesen zu verlieren. Wenn Christian Jankowski in China berühmte Bilder nachmalen lässt, stimmen viele kleine Details nicht, oft ist schon das Bildformat zwischen verfügbarer Reproduktion und Original stark abweichend. Hier lässt er darüber hinaus Tableaux vivants – Nachstellungen von Bildern – reproduzieren und setzt diese in Relation zum Original. Darunter ist ein Skandalbild von 1819, das „Floß der Medusa“ von Gericault in der Version von US-Collegestudenten und das nachgemalte Foto, in dem Marcel Duchamp und Bronia Perlmutter 1924 die Pose von Adam und Eva einnehmen, wie sie Lucas Cranach um 1510 gemalt hat.
So viel Theater auf allen Ebenen gab es im Kunstverein jedenfalls noch nie. All das augenzwinkernde Rollenspiel ist nicht nur unterhaltsam gelungen, sondern durchaus intellektuell seriös in dreifacher Hinsicht: Es ist zum 200-jährigen Jubiläum des Kunstvereins eine schöne Paraphrase des Kunstbetriebs. Es ist darüber hinaus eine gattungssprengende Hochzeit von Literatur, Theater, bildender Kunst und Kritik. Und es ist eine Ausstellung über aktuelle Künstler_innen und Künstlergruppen, die selbst mit wechselnden oder verschleierten Identitäten arbeiten.
„Jed Martin – Die Karte ist interessanter als das Gebiet“: Kunstverein in Hamburg, Klosterwall 23, Di–So 12–18 Uhr. Bis 18. Juni.
Nächste „Vernissagen“ mit vorausgehender theatraler Feierlichkeit im Deutschen Schauspielhaus, Kirchenallee 39: Di, 16. 5., 19 Uhr, und So, 21. 5., 12 Uhr
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