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Avantgarde Bilder von magischer Wirkung: der Filmemacherin Maya Deren zum 100. GeburtstagVoudou und Zeitlupe

von Michael Freerix

Als Maya Deren ihren experimentellen Spielfilm „Meshes of the Afternoon“ 1943 in den USA veröffentlicht, gibt es dort im Kino nichts Vergleichbares. In diesem Film sehen wir eine Frau, die auf einer Straße eine schwarz gekleidete Gestalt erblickt und ihr zu einem Haus folgt.

Dort nimmt sie einen Türschlüssel, dieser entgleitet ihren Fingern, fällt in Zeitlupe auf die Betonstufen, eine nach der anderen, und die Frau stürzt dem Schlüssel hinterher, bis sie ihn am Fuß der Treppe auflesen kann. Mit diesem kann sie die Haustür öffnen. Innen sieht es aus, als wären die Bewohner nur kurz hinausgegangen. Sie wartet, schläft ein, erlebt im Traum die vorangegangenen Erlebnisse erneut und begegnet sich schließlich im Haus mehrfach selbst.

Gefühle genau aufzeichnen

Deren ist zum Zeitpunkt der Entstehung des Films 26 Jahre alt. Sie hat „Meshes of the Afternoon“ (Verschlingungen eines Nachmittags) ganz allein aus dem Wunsch heraus gemacht, „das Gefühl eines menschlichen Wesens, wenn es Ereignisse erlebt, und weniger das Ereignis im Film akkurat aufzuzeichnen.“

Ganz besonders die Einzigartigkeit der „Schlüsselszene“ hat sich in die Filmgeschichte eingeschrieben. Und mit ihr das Werk von Maya Deren, die abseits der kommerziellen Filmindustrie an poetischen Bilderwelten arbeitete, die ihresgleichen suchen.

Maya Deren wird am 29. 4. 1917 als Eleonora Derenkovskaja in Kiew, Ukraine, geboren. Ihr Vater ist Psychiater, der Hypnose für seine „experimentelle Psychologie“ nutzt. Die Familie geht 1922 wegen postrevolutionärer Unruhen und Pogrome in die USA, wo sie ihren Nachnahmen auf Deren verkürzt. Kommunisten, Psychologen und Künstler gehören zum Freundeskreis der Familie.

Eleonora studiert Journalistik an der Syracuse University in New York. Nach einer kurzen Ehe mit einem Gewerkschaftsfunktionär wird sie Sekretärin und Organisatorin der Negro Dance Group von Katherine Dunham in Los Angeles. Nach der politischen Arbeit wird nun Tanz zu ihrer Hauptbeschäftigung.

Auf einer Hollywood-Cocktailparty lernt sie ihren zweiten Mann, Alexander Hammid, kennen. Hammid ist tschechischer Emigrant, der in den USA als Kameramann und Filmemacher arbeitet. Bereits 1930 hat er seinen ersten eigenen Film gemacht. Beide sind gegen ein Kino, das nur „von Stars und Story ausgeht“.

Hammid nennt sie zärtlich „Maya“, nach der indischen Göttin der Illusion, und so wird Eleonora zu Maya Deren. 1943 kaufen die beiden eine kleine 16-mm-Handkamera, eine Pail­lard-Bolex, mit der sie den 13-minütigen Stummfilm „Meshes of the Afternoon“ drehen. Besonders Zeitlupe und komplexe Einzelbildbelichtungen, die das filmische Werk von Deren auszeichnen, lassen sich mit dieser handlichen Kamera leicht herstellen.

Maya Deren ist in der Regel Drehbuchautorin, Hauptdarstellerin, Cutterin, Organisatorin, gelegentlich Kamerafrau und Produzentin in Personalunion. Um ein Publikum für ihre Filme wie „At Land“ (1944, mit John Cage), „The Witch’s ­Cradle“ (mit Marcel Duchamp), „A Study in Choreography for Camera“ (1945), „Ritual in Transfigured Time“ (1946), „Meditation on Violence“ (1948), „The Very Eye of Night“ (1958) zu finden, verleiht sie diese selber, fährt mit ihnen durch die ganzen USA, um sie in Kinos vorzuführen, und mietet auch welche an, um ihre Arbeiten zeigen zu können.

Bei darauffolgenden Diskussionen wird sie häufig mit Begriffen wie „surrealistisch“ oder „psychoanalytisch“ konfrontiert. Diese Themen werden gerade heiß diskutiert in der US-amerikanischen Kulturelite, weil der Surrealist Salvador Dali 1945 mit dem Filmregisseur Alfred Hitchcock an dessen freudianischem Film „Spellbound“ („Ich kämpfe um dich“, mit Ingrid Bergmann und Gregory Peck) zusammengearbeitet hat.

Deren setzt sich vehement gegen solche Interpretationen zur Wehr. Vom Zuschauer erwartet sie eine vollkommene Unvoreingenommenheit, um die „magischen Fähigkeiten des Films“ auf sich wirken zu lassen. „Wenn der Baum im Bild wahr und wirklich war, erschien das Ereignis, das unter ihm passierte, auch wahrscheinlich und wirklich. Und so konnten neue Wirklichkeiten erschaffen werden.“

Gegen Interpretation Maya Deren erwartete von ihren Zuschauern eine vollkommene Unvoreingenommenheit

Ein Guggenheim-Stipendium ermöglicht ihr 1947 eine Reise nach Haiti, wo sie die magischen Rituale des Voudou studieren möchte. Voudou ist eine synkretische Religion, die durch Sklaven von Westafrika in die Karibik gelangte. An zentraler Stelle stehen bei Voudou-Ritualen Opfer von Tieren oder Genussmitteln. Ein Priester leitet das Ritual, in dem Tanz und Gesang zu rhythmischer Trommelmusik die Beteiligten in Trance verfallen lässt. Bereits Katherine Durham hatte derartige Trommelmusik für ihre Choreografien benutzt.

Deren ist fasziniert davon, wie im Voudou äußere und innere Wirklichkeit verschmelzen. Bis 1951 fährt sie immer wieder auf die Insel. Mehr als vier Stunden Filmmaterial belichtet sie dort, doch kulminieren ihre Erfahrungen und Beobachtungen zuerst in dem Buch „Divine Horseman. The Living Gods of Haiti“, das 1953 erscheint. Das Filmmaterial bleibt unbearbeitet, wohl auch, weil sie immer zu wenig Zeit für allzu viel Arbeit hat. Kaum ist ein Film fertiggestellt, beginnt bereits das nächste Projekt.

Ein unbeugsamer Wille

Geld ist nie da. Sie spart es sich vom Mund ab und verzichtet auf „Vergnügungen wie Kinobesuche“ oder ähnlichen „kleinen Luxus“. Akribisch führt sie Buch über jede Einnahme und Ausgabe. Nur diese extreme Sparsamkeit ermöglicht ihr die eigene Filmarbeit. Mit gerade einmal 44 Jahren stirbt Maya Deren im Oktober 1961 überraschend an einem Gehirnschlag. Es wird vermutet, Unterernährung und permanenter Amphetaminkonsum haben diesen mitverursacht.

Amphetaminmissbrauch ist in der US-amerikanischen Leistungsgesellschaft der 50er Jahre etwas vollkommen Normales. Erst 1977 wird das Material aus Haiti von ihrem dritten Ehemann, dem Komponisten Teiji Ito, zu dem 52-minütigen Film „Divine Horseman“ montiert. Er enthält Szenen außergewöhnlicher Nähe und Eindringlichkeit. Maya Deren hatte in Anspruch genommen, selber zum ­Voudou-Priester geweiht worden zu sein, um die Beteiligten unmittelbar filmen zu können. Ohne den unbeugsamen Willen, sich den magischen Qualitäten des Films vollkommen zu unterwerfen, wären Leben und Werk der Maya Deren kaum vorstellbar.

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