: Die Trumpeten von Jericho
ESSAY Wir brauchen eine Vorwärtsverteidigung der Demokratie durch Partizipation und Vertiefung
UTE SCHEUB
Diese Wut ist Ausdruck einer tiefgreifenden Resonanzstörung zwischen Regierten und Regierenden, die auch in Europa grassiert. Rechtspopulisten wie Trump schaffen es, sich als Verkörperung „des Volkswillens“ zu inszenieren, was Wähler glauben macht, bei ihrem „Führer“ endlich Resonanz zu finden.
Noch in den 1990ern glaubten viele, dass es ihre Kinder mal besser haben werden. Nun fürchten sie, dass sie ihr ganzes Leben umsonst gearbeitet haben und ihr Nachwuchs, statt einen Job zu finden, von Robotern ersetzt wird. Die alte Erzählung des Kapitalismus ist perdu, die neue ökosoziale ist noch zu schwach, und in diesem Vakuum setzt sich die Erzählung der Ewiggestrigen durch.
Die Wut geht aber weit über das rechtspopulistische Lager hinaus. Auch Linke sind wütend über die beispiellose Kluft zwischen Superreichen und dem armen Rest, der in sinnentleerten, mies bezahlten Bullshit-Jobs schuften muss. Wer kann als Schweineschlachter, Fastfoodverkäufer, Ackergiftfahrer, Klofrau, Callcentergirl oder Amazonauslieferer schon glücklich werden?
Der Soziologieprofessor Hartmut Rosa prägte den Begriff „Resonanz“ als Gegenteil von Entfremdung. Menschen fühlen sich entfremdet, wenn sie funktionalisiert, ausgebeutet und marginalisiert werden, wenn sich die Verhältnisse immer mehr entlebendigen und verdinglichen, wenn sie im „rasenden Stillstand“ der Moderne keine Sicherheit und keine Antwort auf existenzielle Fragen mehr finden. Re-sonare bedeutet dagegen Wieder-Erklingen: Die Verhältnisse antworten den Menschen.
Wenn Menschen in einer sinnvollen Arbeit, in Naturerlebnissen, in sozialem Engagement aufgehen, fühlen sie sich eingebunden in einer neuen Weltbeziehung. Glücksgefühle von Selbstwirksamkeit stellen sich ein, Ängste und Aggressionen nehmen ab, weil die eigene Existenz nicht mehr als sinnlos erscheint oder gar von „Überfremdung“, von Flüchtlingen, Moslems und sonstigen Andersartigen bedroht.
Unsere traditionelle Form der Wahldemokratie aber fördert keine Gefühle von Resonanz. Alle paar Jahre eine Stimme in eine Urne (!) werfen zu dürfen, ist zwar ein wichtiges Grundrecht, verhilft aber nicht zu Ermächtigungsgefühlen. Viele Politiker fürchten zudem Bürgerermächtigung – sie fühlen sich infrage gestellt. Mit anderen Worten: Das Wahlrecht ist zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Resonanz zwischen Regierung und Regierten.
Linksliberale fordern deshalb, die Wahldemokratie zu erweitern. Volksentscheide, partizipative Bürger- und Zukunftsräte würden eine echte „Tiefendemokratie“ befördern. Demokratie kann heute nur in Vorwärtsverteidigung erhalten werden.
Aus den schlechten Erfahrungen mit dem Brexit sowie aus Angst vor dem „Pöbel“ hat die Unterstützung neuer Demokratieformen in letzter Zeit allerdings wieder abgenommen. Zu Unrecht. Ein Blick in die Schweiz zeigt: Zwar gibt es auch dort abstoßende Rechtspopulisten, aber kaum politische Gewalt. Die Grundidee der direkten Demokratie, dass die Bevölkerung der eigentliche Souverän ist, durchzieht das Schweizer Leben bis tief in den Alltag. Jeder Mensch kann eine Initiative für ein neues Gesetz in Gang bringen oder ein Referendum zur Abschaffung eines solchen. Der Bevölkerungswille wird in einem endlosen Prozess abgefragt und hergestellt.
Diese Selbstermächtigung ist ein wichtiger Grund für die hohe Zufriedenheit in der Schweiz, die regelmäßig an der Spitze der glücklichsten Länder der Welt steht. Laut Glücksforscher Bruno Frey ist die gemessene Lebenszufriedenheit umso höher, je mehr Partizipation und Mitbestimmung ein Kanton zulässt. Die Schweizer Demokratie ist wesentlich resonanzfähiger als die anderer Länder.
Sie kennt allerdings keine Bindung an Grundwerte. In der Schweiz wäre eine Abstimmung etwa über die Einführung der Todesstrafe theoretisch möglich, in Deutschland wäre sie grundgesetzwidrig. In der Praxis aber führten nur extrem wenige Volksabstimmungen mit rassistischen Untertönen zum Erfolg; dasselbe gilt für Volksentscheide auf kommunaler oder Länderebene in Deutschland. Die Angst vor dem „Pöbel“ ist unbegründet. Man könnte sogar noch schärfer formulieren: Ein Modell, das keine Resonanz (mehr) zulässt, stellt den Pöbel überhaupt erst her. Trumps Wahlerfolg beruht auf der aggressiven Wut von Statuspanikern, die sich nirgendwo mehr repräsentiert fühlten.
Ein weiteres Mittel zur Erhöhung der „Resonanzfähigkeit“ von Demokratie sind Bürger- und Zukunftsräte. Der Belgier David Van Reybrouck weist darauf hin, dass Bürgerräte und andere Formen „deliberativer Demokratie“ die eigentliche Urform von Demokratie, Wahlen hingegen eher typisch für Oligarchien sind. Bürgerräte funktionieren ähnlich wie Schöffengerichte: 12 bis 50 Personen werden per Los in ein Gremium berufen, das Lösungen für bestimmte Fragen ausarbeiten soll. Die „qualifizierte Zufallsauswahl“ berücksichtigt dabei auch Kriterien wie Geschlecht, Alter, Herkunft und Bildungsgrad, damit der Rat repräsentativ arbeitet. Der große Vorteil solcher Gremien: Lobbyisten sind chancenlos, weil die Bürgerauswahl zufällig erfolgt.
geboren 1955 in Tübingen, ist Politikwissenschaftlerin, Mitbegründerin der taz und freie Publizistin.
Im Mai erscheint bei oekom ihr 19. Buch: „Demokratie – die Unvollendete“, herausgegeben vom Verein Mehr Demokratie. Ab Mitte Mai ist es frei erhältlich zum Download auf www.mehr-demokratie.de
In Island hat ein Bürgerrat nach der Finanzkrise von 2008 eine neue Verfassung ausgearbeitet, deren Einführung die Konservativen allerdings später verhinderten. Ein ähnliches Verfahren führte zur Masseneinführung von Windenergie ausgerechnet im Ölstaat Texas. Im erzkatholischen Irland bereitete ein solcher Rat das erfolgreiche Referendum über die Homoehe vor. Im österreichischen Vorarlberg sind Bürgerräte in der Landesverfassung festgeschrieben; in Bregenz erarbeitete ein solcher Rat wertvolle Hinweise zum Umgang mit Geflüchteten. Auch in Deutschland arbeiten Bürgerräte auf kommunaler Ebene.
Zukunftsräte sind eine Variante von Bürgerräten, die sich um generationsübergreifende Fragen kümmern. Das Bundesumweltministerium setzte einen ein, der Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele erarbeitete. Er zeigt, welche progressiven Ergebnisse die kollektive Intelligenz zustande bringt – wenn man sie nur lässt. Befragungen der Beteiligten belegen zudem, dass ihre „Resonanzfähigkeit“, ihre Zufriedenheits- und Selbstwirksamkeitsgefühle stark anstiegen. Sie fühlten sich ernst genommen und engagieren sich deshalb auch in Fragen, in denen sie keinerlei persönliche Interessen haben. Viele Beteiligte berichten von der „positiven Energie“, die in solchen Gremien herrscht.
Es gibt noch viele weitere partizipative Verfahren, etwa Bürgerhaushalte oder Zukunftswerkstätten. In Chicago trug ein professionell moderiertes Townhallmeeting nach 9/11 entscheidend zum großstädtischen Frieden bei, weil Muslime aktiv einbezogen wurden. Im Dreiländereck zwischen Deutschschweiz, Elsass und Baden entsteht unter dem Namen „Die Kraft der Dörfer“ ein Netzwerk von Gemeinden, die die Relokalisierung ihrer Ökonomie und Demokratie vorantreiben. Es gibt noch zahlreiche andere Beispiele dieser Art, aus aller Welt.
Eine Vorwärtsverteidigung der Demokratie durch Vertiefung wäre auch in der EU möglich. Die Berliner Politikprofessorin Ulrike Guerót hat eine durchdemokratisierte europäische Republik entworfen, in der die Nationen fast keine Rolle mehr spielen und dafür Städte und Regionen eine umso größere. Denn alles Wichtige ist lokal. Bedürfnisse wie gutes Essen, Wohnen, Arbeiten und Zusammenleben werden lokal befriedigt, Glück entsteht in funktionierenden Gemeinden und Gemeinschaften.
Utopisch? Nun: Auch die Demokratie ist derzeit eine Kippfigur. Entweder sie geht einen Riesenschritt vorwärts. Oder sie strauchelt.
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