Offene Geheimnisse: Sie pfiffen’s von den Dächern

Vor dem Untersuchungsausschuss zum mutmaßlichen Sozialbetrug in Bremerhaven gab es erneut so einige Ungereimtheiten

Selbst sie sollen vom Sozialbetrug gewusst haben – aber der Sozialdezernent angeblich nicht Foto: Stephanie Pilick/dpa

Zwei Zeuginnen sagten am gestrigen Freitag vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum mutmaßlichen massenhaften Sozialbetrug in Bremerhaven aus: Jugendamtsleiterin Susanne Wild und Stella Fan­drich von der beim Gesundheitsamt angesiedelten „humanitären Beratungsstelle.“

Fandrich bestätigte im Grunde das, was Anfang März bereits Margaret Brugmann, Fachbereichsleiterin der Arbeiterwohlfahrt (AWO) für Migration und Leiterin der dort von der Sozialbehörde angesiedelten Beratungsstelle für BulgarInnen und RumänInnen, ausgesagt hatte. Neunmal habe sie dem Sozialdezernenten zwischen April 2013 und April 2016 konkret über die Vorgänge rund um die beiden ins Visier geratenen Vereine berichtet. Unternommen habe die Sozialbehörde aber lange nichts.

Fandrich berichtete, sie habe engen Kontakt zu der AWO-Beratungsstelle gehabt: „Ich wusste, dass Frau Henriksen vom Sozialamt immer und immer wieder auf die Probleme aufmerksam gemacht wurde und keinerlei Reaktion erfolgte.“ Aus diesem Grunde habe sie erst gar keine Versuche unternommen, ihrerseits die Sozialbehörde zu verständigen.

In ihrer Tätigkeit, berichtete Fandrich, sei sie vor allem zuständig gewesen für MigrantInnen ohne Krankenversicherungen. Als 2013 die AWO-Beratungsstelle installiert worden sei, habe sie viele KlientInnen zur weiteren Betreuung dorthin geschickt. Selim Öztürk und sein Verein „Agentur für Beschäftigung und Integration“ seien damals bereits bekannt gewesen und ungefähr ab Mai 2014 sei er dann unangenehm aufgefallen: „Ab da fand eine vermehrte Abwanderung zu ihm statt, aber Öztürk half den Menschen nur punktuell: Er kümmerte sich ausschließlich um den Bereich Arbeit.“ Mit dem Rest habe er die Menschen wieder zu ihr oder zur AWO-Stelle geschickt. Anfangs habe sie gedacht, die Menschen gingen zu Öztürk, weil man dort ihre Sprache gesprochen habe, „aber es kristallisierte sich heraus, dass es immer nur um Arbeitsverträge mit aufstockenden Leistungen ging“.

Sie habe im „Netzwerk Schwangerschaft“ von den dubiosen Arbeitsverträgen berichtet „und ich erinnere mich noch genau, dass ich mich sehr geärgert habe, weil eine Frau vom Jobcenter sagte, sie sei nicht dafür zuständig, die Richtigkeit von Arbeitsverträgen zu überprüfen“.

Beim Jugendamt habe sie ebenfalls Meldung gemacht: „Wenn ich das Kindeswohl gefährdet sah, weil es keine Heizung gab und keine Krankenversicherung für die Kinder, weil die ganze Familie von nichts anderem gelebt hat als vom Kindergeld, dann musste ich mir beim Jugendamt anhören: Aber dafür haben wir doch Sie bei der humanitären Sprechstunde!“

Jugendamtsleiterin Susanne Wild hingegen berichtete dem Untersuchungsausschuss davon, dass die Anzahl osteuropäischer Zuwanderer zwar gestiegen sei, „unsere Klientel hatte aber weder echte noch gefälschte Arbeitsverträge, sondern gar keine“. Die Quartalsberichte der AWO seien nicht ans Jugendamt gegangen und bei den Treffen der Arbeitsgruppen, in denen Selim Öztürk, die Vereine und Scheinarbeit thematisiert wurden, sei sie nicht anwesend gewesen: „Mir ist Selim Öztürk nie begegnet und Patrick Öztürk nur als Mitglied des Jugendhilfeausschusses.“

„Alle wussten, dass es Arbeitsverträge ohne Arbeit für Bulgaren gab – das pfiffen die Spatzen von den Dächern“, sagte Stella Fandrich. Für sie sei es unvorstellbar, dass die Zustände nicht bekannt gewesen seien.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.