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Kabarettrockkonzert in BerlinDer Charme der Schuljungen

Ironische Texte, vielfältiger, satter Sound: Noch bis Sonntag spielt die Kabarett-Rockband Tonträger in der „Bar jeder Vernunft“.

Haben in der Bar jeder Vernunft sichtlich Spaß auf der Bühne: Musiker der Band Tonträger Foto: XAMAX

Die Szenerie: ein Spiegelzelt, viele Weingläser, schick gekleidete Menschen, die zaghaft an ihren Käseplatten picken. Ankommende Gäste bekommen ein buntes Knicklicht in die Hand und werden zu Plätzen an kleinen Tischen geleitet. Soll das Rock ’n’ Roll sein? Werden hier gleich wirklich die vier jungen Musiker von Tonträger rockend und swingend auf der Bühne stehen? Das Publikum ist im Durchschnitt 50 plus, ein 0,3-Bier kostet 3,90 Euro, eine Apfelschorle stolze 5 Euro.

Eine tiefe Stimme aus dem Off kündigt an, dass es während des Konzertes leider keinen Service geben werde, und wünscht viel Spaß bei der Vorstellung. Die Gäste pusten artig die Tischkerzen aus. Es riecht nach Kerzenqualm, eine Marschmusik beginnt. Bühne frei für Tonträger.

Tonträger sind eine Band, bestehend aus Johannes Wolff, Lennart Schilgen, Jonathan Richter und Daniel Bombei, die 2004 mit Beatles-Covern begann und heute eine unkonventionellen Kabarett-Rockband mit humorvollen deutschen Texten ist. Am Dienstagabend präsentieren sie in der Bar jeder Vernunft in Berlin-Wilmersdorf ihr neues Programm „Alles sitzt. Rock ’n’ Roll zwischen den Stühlen“.

Dabei spielen sie stets mit einer Erwartungshaltung. Und erfüllen sie nicht. Mitten im Lied wird ein abrupter Genrewechsel vollzogen, Songtexte beginnen mit einem fröhlichen „Ich hab heute so viel vor“, um dann mit einem resignierendem „mir hergeschoben“ zu enden, ein romantisch anmutendes Liebeslied mit sanfter Gitarrenmusik entpuppt sich als gruseliger Stalkersong. Auch das Konzert mit einem Stück zu eröffnen, bei dem die vier Musiker schnarchend an ihren Instrumenten hängen, um den „Liegen-bleiben-Blues“ zu symbolisieren, ist mutig. Gähnen ist bekanntlich ansteckend. Doch Tonträger weiß auch bei Schlafliedern wach zu halten, etwa bei einer Rockversion von „Gute Abend, gute Nacht“.

Sitzen statt Tanzen

Leisere Töne schlägt Johannes an, der mit leidigem Gesichtsausdruck fragt: „Why do they call it heartache, when it’s a pain in the ass?“ Dabei suhlt er sich mimisch derart im „Schaumbad des Selbstmitleids“, dass trotz der steifen Konzertlocation die Assoziation eines jaulenden Sängers in einer vollgepissten Ringbahn geweckt wird.

Die Bandmitglieder wechseln routiniert ihre Instrumente, den Part des Leadsängers übernimmt jeder von ihnen mal. Ein Tonträger-Konzert sitzend zu verbringen ist schade. Denn die Energie der Band, die musikalische Abwechslung machen Lust auf Tanzen, mindestens aber auf „Kopfnicken, Rumstehen“, wie es in einem Lied heißt. Doch der Titel ist Programm, „Alles sitzt“ und lauscht aufmerksam den Texten aus der Feder von Len­nart Schilgen. Unterstützen darf das Publikum immer wieder mal gesanglich. In diesem Kontext ist das Arrangement mit der „Bar jeder Vernunft“ wohl passend, zumal kaum eine Berliner Band die Möglichkeit von sechs aufeinanderfolgenden Auftritten in der Hauptstadt samt Werbung ablehnen würde. Darauf kann es nach Konzertende dann auch Sekt und Häppchen geben. Rock ’n’ Roll im Jahr 2017.

„Tonträger“

Wieder 7. und 8. April, 20 Uhr, 9. April, 19 Uhr, Bar jeder Vernunft, Schaperstraße 24

Auch optisch sind die Musiker von Tonträger mehr Traumschwiegersöhne als Rock­legen­den. In retro-angehauchten Anzügen und mit verschmitztem Grinsen versprühen sie Schuljungen-Charme im Zelt. Textlich brechen sie zum Glück aber auch damit und dissen im Song „Elvis“ ihr nicht mehr ganz junges Kabarettpublikum, bei dem sie dankbar seien, dass keine BHs auf die Bühne flögen. Wenn auch alt, nachtragend ist das Publikum nicht. Nach Zugaben von einem eingedeutschten „Fever“ vom Drummer Bombei als Elvis Presley und dem Chanson „L’art pour l’art“, bei dem Lennart Schilgen verträumt quer durchs Zelt streift, bedankt es sich mit Standing Ovations.

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