: Ein Leben mit Sinn führen
LOW BUDGET Im Independent-Film „Westend“ von Mari Cantu adoptiert eine bürgerliche Familie ein Roma-Mädchen
von Detlef Kuhlbrodt
Sigi und Conny sind ein umweltbewusstes und sozial engagiertes Ehepaar. Sie leben in einer Villa im Bezirk Westend. Es gibt einen großen Garten, zwei Autos, ein Chamäleon in einem Terrarium, einen Gong, mit dem zum Essen gerufen wird – und die achtzehnjährige Tochter Miriam, die bald ausziehen wird. Doch zunächst fährt sie erst mal mit dem Theaterleistungskurs nach Zürich.
Als Zuschauer ist man gleich ein bisschen angewidert von der Familie. Womit die Eltern ihr Geld verdienen oder ob beide arbeiten, erfährt man leider nicht. Dafür sind manche Dialoge sehr schön. Die Frau sitzt im Garten. Der Mann fragt: „Hast du heute das Feuilleton der Zeit gelesen?“ Sie schüttelt den Kopf, und er entgegnet: „Dein Desinteresse an der Welt ist phänomenal.“ Worauf sie antwortet: „Okay, wir gehen zur Paartherapie.“
Conny ist ein bisschen traurig und möchte lieber ein sinnvolles Leben führen. Deshalb schlägt sie vor, einen armen, kleinen Roma-Jungen aus Osteuropa zu adoptieren. Sigi hat Einwände. Das ist ja alles auch kompliziert, und ein älteres Adoptivkind wäre passender. Auch sollte es besser ein Mädchen sein, sonst könnte es ja womöglich etwas mit der leiblichen Tochter anfangen wollen. Gesagt, getan. Schon bald steht Kishope, die im Alter der eigenen Tochter ist, in der adretten Wohnung und wird das Leben der umweltbewusstes und sozial engagierten Leute umkrempeln.
Schüchtern schaut sie sich in ihrem neuen Zimmer um. Die neuen Eltern drücken ihr die abgelegten Anziehsachen der leiblichen in die Hand. „Ich hatte nicht gedacht, dass sie so zierlich ist“, sagt Sigi, als er Kishope zum ersten Mal sieht.
„Westend“ ist der zweite Spielfilm der aus Ungarn stammenden Regisseurin Mari Cantu. Es wäre ihr darum gegangen, einen Film „außerhalb jeglicher Institution, nur aus eigener Kraft zu produzieren“, heißt es in der Ankündigung; also so independentmäßig auf Schnelligkeit und künstlerische Freiheit zu setzen statt auf eine möglicherweise großzügige Unterstützung.
Diese Herangehensweise merkt man dem Film im positiven Sinne an. Schon die Länge – der Film ist 75 Minuten lang – wäre in einem fernsehfinanzierten Film vermutlich schwierig durchzudrücken gewesen, umso mehr, als es in den 75 Minuten mehrere Tempowechsel gibt.
Die ersten 20 Minuten, in denen furchtbar viel geredet wird, sind recht langsam und distanziert inszeniert. Kurz bevor man sich langweilt, nimmt der Film jedoch Fahrt auf und einem gefällt plötzlich rückblickend das, was man eben noch beinahe langweilig gefunden hätte, vielleicht auch, weil man anfangs gar nicht merkt, dass man in Berlin ist.
Der Bruder von Kishope taucht auf und wird unter dem Bett versteckt. Sigi bedrängt am frühen Morgen die schlafende Adoptivtochter. Kishopes Mann mit dem gemeinsamen Kind und ihr Vater kommen auch vorbei und müssen irgendwo versteckt werden. Ein Begrüßungsfest wird gegeben mit wichtigen Gästen, um Kishore zu begrüßen und mit ihr anzugeben. Versteckt im Keller spielt Kishopes Vater währenddessen begeistert mit altem Elektronikspielzeug und trinkt dazu Wein.
Miriam nimmt Kishope und deren Kind mit in ihren Schlagzeugübungsraum am Kielufer. Eine Weile geht das Kind verloren und wird in der Umgebung des Kleistparks gesucht und später auch gefunden. Dass Sigi Kishope beim Bügeln bedrängt, ist keine so gute Idee. Sie weiß sich zu wehren. Eine Plastiktüte voller Geld und einige Gangster, mit denen sich Kishopes Mann eingeladen hatte, spielen auch eine Rolle. Dass vieles unklar ist, stört überhaupt nicht.
Die komischen Passagen des Films funktionieren umso besser, als dass sie sparsam eingesetzt sind. Am Ende möchte die Tochter ausziehen und sagt: „Ich finde es total zum Kotzen, wie wir hier leben.“ Dann lässt sich der Film wieder viel Zeit zum Ausfaden.
„Westend“ läuft vom 23. 3. bis 29. 3. tgl. um 19. 30 Uhr im Kino der Brotfabrik, Caligariplatz 1
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