piwik no script img

Malern lohnt nicht, sie wollen doch umziehen

Wohnen II Die Al Soukiehs aus Kreuzberg sind seit sechs Jahren auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Doch es gibt kaum Wohnungen, die groß genug wären für sie – und auch erschwinglich. Die sechsköpfige Familie muss bleiben, wo sie ist: in beengten Verhältnissen

„Soll ich sagen, wir packen unsere Sachen und gehen auf die Straße?“, sagt Ismael Al Soukieh, hier mit seinem Sohn Tarik

von Dinah Riese (Text) und Sebastian Wells (Foto)

Es dampft, als Darine Al Soukieh heißen Tee aus einer kleinen silbernen Kanne in die Tassen auf dem Wohnzimmertisch gießt. „Ein viertes Zimmer“, sagt die 37-Jährige, „dann wäre alles gut.“ Es müsse nicht mal ein großes sein, sagt sie und streicht ihr schwarzes Kopftuch glatt. Die Wohnung der Al Soukiehs in Kreuzberg ist karg eingerichtet. Das geräumige Wohnzimmer ist das Herz der Wohnung, in deren drei Zimmern Darine Al Soukieh und ihr Mann Ismael mit ihren vier Kindern wohnen – auf gerade mal 70,5 Quadratmetern.

Dabei stünde den Al Soukiehs viel mehr zu. Ismael Al Soukieh sitzt auf dem Sofa. Aus gesundheitlichen Gründen kann der 51-Jährige seit etwa zehn Jahren nicht mehr in seinem Job auf dem Bau arbeiten, die Familie lebt von Hartz IV. Beim Jobcenter heißt es, für einen Sechspersonenhaushalt seien maximal 109 Quadratmeter angemessen – die Familie liegt mit ihrer Wohnung also unterhalb der maximalen Wohnfläche für einen Dreipersonenhaushalt.

Es geht aber nicht darum, was den Al Soukiehs zusteht. Seit etwa sechs Jahren sind Darine Al Soukieh und ihr Mann auf der Suche nach einer neuen Bleibe – vergebens. Es gibt kaum Wohnungen in der benötigten Größe, die sich das Ehepaar leisten kann. Und die, die es gibt, sind heiß umkämpft.

In keiner anderen deutschen Großstadt sind die Mieten im vergangenen Jahrzehnt so ex­trem angestiegen wie in Berlin. Genau gegensätzlich verhält es sich mit der Entwicklung des Leerstands: Nicht nur günstige Wohnungen sind Mangelware, es gibt überhaupt kaum noch freien Wohnraum. Gerade mal rund 1,7 Prozent beträgt die Leerstandsquote in Berlin, so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Für einen entspannten Wohnungsmarkt setzen ExpertInnen eine Untergrenze von 3 Prozent an.

Die Leerstandsquote von 1,7 Prozent macht deutlich: Die Wohnungsnot ist in Berlin kein Problem, mit dem nur gering Verdienende oder vom Amt abhängige Haushalte konfrontiert sind. Es betrifft Familien, in denen beide Eltern ohne Job sind ebenso wie solche, in denen die Erwachsenen studiert haben und arbeiten gehen (siehe Seite 44).

Vom Wohnzimmerfenster der Al Soukiehs sieht man mit Einkäufen bepackte Menschen aus der Markthalle am Mar­heine­ke­platz kommen. Gelegen zwischen Biosupermärkten duftet es in der 1892 eröffneten Markthalle nach Auberginen in Olivenöl und gebratenem Fleisch, alles zu ambitionierten Preisen. Im Obergeschoss legen junge Leute mit Hornbrillen und Jutebeuteln Seitan-Nuggets auf das Kassenband eines veganen Supermarkts. Gegenüber dieser Szenerie wirkt die Wohnung der Al Soukiehs direkt um die Ecke wie ein Besuch in der Vergangenheit – als die Durchschnittsmieten im Kiez noch nicht bei 10 bis 11 Euro pro Quadratmeter netto kalt lagen.

Im Laufe der Jahre sind die weißen Wände im Wohnzimmer grau geworden. Seit 17 Jahren wohnt das Ehepaar hier. Jetzt ­sitzen die beiden in der Sofaecke am Fenster. Darine Al Soukieh blickt nachdenklich auf die Kinderkritzeleien an den Wänden. Vor allem neben dem Schreibtisch in der Ecke sieht es aus, als machten die Kinder ihre Hausaufgaben gern mal an der Wand statt auf einem Blatt Papier. Von den Türen blättert an einigen Stellen der Lack.

„Jedes Jahr überlegen wir zu renovieren“, sagt die Frau mit den freundlichen Augen. „Aber dann denken wir: Wir wollen doch umziehen!“ „300 D-Mark warm habe ich beim Einzug für die Miete bezahlt“, sagt Ismael Al Soukieh. Inzwischen sind es 615 Euro – ihre Warmmiete liegt damit mehr als 2 Euro unter der durchschnittlichen Nettokaltmiete in der Gegend. Doch selbst der beste Quadratmeterpreis hilft nichts, wenn die Wohnung zu klein ist.

Die vier Kinder der Al Soukiehs schlafen alle im selben Raum – vom Jüngsten, dem achtjährigen Sohn Ali, bis zur 17-jährigen Rana. Weniger als 15 Quadratmeter hat das schlauchförmige Kinderzimmer. Auf der Schrankwand stapeln sich leere Koffer.

Rana und ihre 13-jährige Schwester Rima liegen in ihrem Hochbett. Sie stellen sich schlafend. „Sie sind schüchtern“, lacht die Mutter. Ali und der 11-jährige Tarik müssen sich ein Bett teilen. Doch im Moment ist das Bett leer – Tarik ist bei der Ergo­therapie, und der Jüngste sitzt brav neben den Eltern im Wohnzimmer und lächelt. Kein böses Wort kommt über seine Lippen: Sich mit dem Bruder ein Bett zu teilen sei „schön“. Ein größeres Zuhause wünscht sich Ali aber trotzdem: „Weil das schön wäre.“

Fast jeden Tag durchsucht Darine Al Soukieh die Wohnungsangebote auf den einschlägigen Internetportalen. „Aber manchmal kann ich nicht mehr“, sagt sie. Sie tippt und wischt ein paar Mal auf ihrem Smartphone, dann schiebt sie das Telefon über den Tisch. „Kreuzberg ist zu teuer“, sagt sie. Die Wohnungsangebote sprechen für sich: eine Zweizimmerwohnung direkt um die Ecke, knapp 97 Quadratmeter für rund 1.260 Euro kalt. Oder eine Wohnung am Landwehrkanal: gerade mal 69 Quadratmeter, zwei Zimmer, für 1.730 Euro kalt.

Am nächsten Tag wollen sie zu einer Besichtigung im angrenzenden Stadtteil Schöneberg. Es geht um eine Wohnung im Besitz der Gewobag, eines der sechs kommunalen Wohnungsunternehmen in Berlin. Entsprechend günstig ist die Miete – vier Zimmer auf 105 Quadratmeter, für etwa 718 Euro kalt.

Er sei schon zu mehreren solcher Termine gegangen, sagt Ismael Al Soukieh. „Mehr als hundert Leute waren da, das war verrückt“, erinnert er sich. Immer und immer wieder habe er seine Unterlagen eingereicht, aber nie sei etwas zurückgekommen. So sehr sie ihren Kiez lieben, die Al Soukiehs suchen auch in Tempelhof oder in den weiter entfernten Bezirken Rudow und Spandau. Doch auch dort gibt es kaum freie Wohnungen (siehe Seite 41).

„Ich kenne hier jede Straße, jede Ecke“, sagt Ismael Al Soukieh. Er kam in den 1990ern als Bürgerkriegsflüchtling aus dem Südlibanon nach Deutschland, seit 1998 hat er die deutsche Staatsbürgerschaft. Zunächst lebte er in der Stadt Werl in Nordrhein-Westfalen, knapp 40 Kilometer östlich von Dortmund. Vor 20 Jahren kam er für die Arbeit auf einer Baustelle nach Berlin, seitdem lebt er im Kiez.

Die vier Kinder der Al Soukiehs schlafen alle im selben Raum. Weniger als 15 Qua­dratmeter hat das Kinderzimmer

„Es geht mir vor allem um Rana“, sagt Darine Al Soukieh. „Unsere Tochter ist jetzt 17 Jahre alt und muss sich immer noch ein Zimmer mit ihren drei Geschwistern teilen“. Rana geht in die zehnte Klasse, sie will Abitur machen. Doch die Ruhe zum Lernen fehlt daheim: Die Kinder machen ihre Hausaufgaben auf dem Bett oder am Esstisch im Wohnzimmer, wo der Fernseher läuft, auf dem Sofa gequatscht wird, die Geschwister streiten …

Ismael Al Soukiehs Blick wandert durchs Wohnzimmer, vorbei an der Schrankwand mit dem Fernseher und der Vitrine mit den Porzellanleuchttürmen. Sonst gibt es wenig Schmückendes an den Wänden, die Einrichtung ist auf das Nötigste beschränkt: Sofaecke, Schrankwand, Tisch und Bänke, ein kleiner Schreibtisch. „Wenn etwas kaputt ist, schmeiße ich es sofort weg“, sagt Ismael Al Soukieh.

Er habe mal die Hausverwaltung gefragt, ob sie die Wohnung tauschen könnten. Damals hätte es gerade mehrere freie Wohnungen im Haus gegeben, größere als die der Al Soukiehs. Doch aus dem Plan wurde nichts. „Die sind froh, wenn wir ausziehen.“

Dass die Miete der Al Soukiehs so günstig ist, liegt an ihrem alten Mietvertrag – bei einer Neuvermietung könnte die Hausverwaltung deutlich mehr Geld verlangen. So wie bei der Vierzimmerwohnung im Haus, auf die Ismael Al Soukieh ein Auge geworfen hatte. Etwa 800 Euro zahlte die Nachbarin, die dort wohnte. Doch nach ihrem Auszug verlangte die Hausverwaltung dann mehr, als die Al Soukiehs sich leisten können. Dabei könnten sie durchaus mehr aufbringen, als sie momentan zahlen. Bis zu 924 Euro bewilligt ihnen das Amt.

Erst einmal bleibt es eng bei den Al Soukiehs. „Wir haben aus Spaß schon mal überlegt, noch eine Wand einzu­ziehen“, lacht Darine Al Soukieh. „Aber dann wäre vom Wohnzimmer ja nichts mehr übrig.“

So wenig Mut die Lage auf dem Wohnungsmarkt auch macht – aufgeben will die Familie nicht. „Was soll ich machen?“, zuckt der Vater die Achseln. „Soll ich sagen, wir packen unsere Sachen und gehen auf die Straße?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen