: Segner der Nazis
Widerrede Vor einer Woche jährte sich der Todestag von Otto Dibelius zum 50. Mal. Der Berliner Bischof Markus Dröge ehrte den evangelischen Kirchenführer als einen Christen, der Verantwortung übernommen habe. Unser Autor will das so nicht stehen lassen
von Karsten Krampitz
Im Ringen um die Menschenrechte verschickte der Bischof schon mal Briefe an Stalin und Grotewohl, in denen er nicht nur Gesetzlichkeit, sondern auch Recht einforderte. Seine Predigten sind Legende. An der SED-Diktatur missbilligte Otto Dibelius sogar die Straßenverkehrsordnung: „Wenn ich in der sogenannten freien Welt einem Straßenschild begegne, das mich nötigen will, nur 15 Kilometer zu fahren, dann werde ich mich ohne Weiteres danach richten. Denn ich weiß, dass diese Vorschrift für alle gilt […]. Indem ich aber dasselbe Schild auf einer Autobahn der DDR sehe, rast schon ein russisches Auto mit 100 Sachen an mir vorbei, von einem ostzonalen Behördenwagen gefolgt. Die dürfen; ich darf nicht, weil ich nicht Parteifunktionär bin. Und nicht nur das! Warum soll ich nicht schneller fahren? Weil da gerade die Umgehungsstraße gebaut wird, die – ohne dass das offen gesagt wird – der Aushungerung Westberlins dienen soll? Oder weil die Elbbrücke nach 15 Jahren immer noch nicht fertig ist – nicht weil man kein Geld und kein Material hätte, sondern weil Geld und Material für die Frauenbataillone gebraucht werden, die für die Besetzung Westberlins im Straßenkampf geschult werden müssen? Ein solches Verbot hat für mich keinerlei verpflichtende Kraft, weil ich es nicht für legitim erachten kann.“
Am Ende seines Lebens schrieb der nunmehr 86-Jährige an Freunde, er fühle sich wie einer, der im Umzug steht. „Habe und Gepäck hat man vorausgeschickt. Nun wartet man auf die Abfahrt, bei der man die alte, liebgewordene Landschaft noch einmal an sich vorbeiziehen sehen wird; aber das Herz ist doch schon frei für das, was kommen wird.“ – Das Gepäck aber blieb zurück; bei seinem Tod am 31. Januar 1967 hinterließ Otto Dibelius der Kirche eine schwere Hypothek, an der die EKD bis heute trägt.
Doch von vorn: Obwohl die Reformation vor fünfhundert Jahren begann, ist die evangelische Kirche in Deutschland als eigenständige Organisation keine hundert Jahre alt. Erst mit dem Ende des Kaiserreichs hatte das Kapitel Staatskirche ein Ende gefunden. „Ecclesiam habemus! Wir haben eine Kirche!“, verkündete Otto Dibelius in seinem im Dezember 1926 erschienenen Buch „Das Jahrhundert der Kirche“, das mit dem Jahr 1918 begonnen hatte. Der damalige Kurmärkische Generalsuperintendent schrieb: „Das Ziel ist erreicht. Gott wollte eine evangelische Kirche. Seinem Willen mussten beide dienen, die aufbauen und die da zerstören wollten.“
Allerdings wollte der Allmächtige ganz sicher nicht, dass die evangelische Kirche zum Sammelbecken antidemokratischer Kräfte avancierte. Von den großen Sozialmilieus dieser Zeit zeigte sich keines so offen für die Ideologie der Nazis wie das kleinbürgerlich-evangelische. Der deutsche Protestantismus mit seinen Kirchen, Institutionen und Vorfeldorganisationen war die Haupteinbruchsstelle der Nationalsozialisten. Für diese verheerende Entwicklung steht der Name Otto Dibelius, der noch im Jahr 1951 den Nationalsozialismus mit der Säkularisierung erklären sollte. Das Gros der evangelischen Amtsträger begrüßte den Niedergang der parlamentarischen Demokratie und die Entwicklung hin zu einer totalitären Diktatur.
Zeugnis davon gibt Dibelius’ Predigt am „Tag von Potsdam“: „Wir wollen wieder sein, wozu uns Gott geschaffen hat. Wir wollen wieder Deutsche sein!“ Weiter: „Durch Gottes Gnade ein deutsches Volk!“ Der 21. März 1933 war bis dahin der schwärzeste Tag in der (an dunklen Kapiteln nicht gerade armen) Geschichte des deutschen Protestantismus. Die evangelische Kirche machte sich zum Komplizen des faschistischen Terrors. Für die Siegesfeier der Nazis stellte sie den Raum zur Verfügung und sparte nicht mit dem Segen. Historiker schätzen die Zahl der bis zum 21. März durch SA und SS Ermordeten auf fünf- bis sechshundert Menschen. Mindestens fünfzigtausend waren bereits in Konzentrationslagern eingesperrt.
Otto Dibelius nahm Mord und Terror billigend in Kauf; in den Lagern verschwanden eh nur Leute, die man in der Kirche oft genug zum Teufel gewünscht hat: Kommunisten, Sozialisten, Asoziale. Bemerkenswert auch der Bibelvers, den er seiner Predigt vorangestellt hatte: „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ (Römer 8,31).
Wie es der israelische Historiker Saul Friedländer schreibt, war es mit Otto Dibelius der damals prominenteste evangelische Geistliche in Deutschland, der dann am 4. April 1933 in einer Rundfunkrede, die in den USA ausgestrahlt wurde, das NS-Regime verteidigte, die Brutalitäten in den Konzentrationslagern bestritt und allen Ernstes behauptete, der staatlich organisierte Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte sei ein Akt berechtigter Notwehr gewesen, der „in absoluter Ruhe und Ordnung verlaufen“ sei.
Tage zuvor hatte Dibelius den inhaftieren KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann besucht. Jedoch nicht im Sinne des Evangeliums, Matthäus 25, Vers 36: „Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.“ In den Augen des Otto Dibelius war Thälmann nicht der Geringste unter den Brüdern Jesu, sondern ein bolschewistischer Umstürzler. In seiner Rundfunkrede erklärte Dibelius: „Wir haben die kommunistischen Führer im Gefängnis besucht. Sie haben uns übereinstimmend gesagt, dass sie durchaus korrekt behandelt würden. An den Schauernachrichten über grausame und blutige Behandlung der Kommunisten in Deutschland ist kein wahres Wort.“
Zur selben Zeit schrieb Dibelius an seine Pfarrer: „Meine lieben Brüder! Für die letzten Motive, aus denen die völkische Bewegung hervorgegangen ist, werden wir alle nicht nur Verständnis, sondern volle Sympathie haben. Ich habe mich trotz des bösen Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer als Antisemiten gewusst. Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt.“
Im August 33 wurde Dibelius seiner kirchlichen Ämter enthoben. Fortan engagierte er sich in der Bekennenden Kirche gegen die Übermacht der „Deutschen Christen“ und für die mehr als 100 vom Berufsverbot bedrohten evangelischen Pfarrer jüdischer Herkunft.
Generalsuperintendent Otto Dibelius am „Tag von Potsdam“ im März 1933
Nach dem Krieg sollte es in der evangelischen Kirche keine wirkliche „Stunde null“ geben, die nationalprotestantische Prägung wirkte bis Ende der 1960er Jahre fort – dafür aber gab es einen Mann der Stunde: Otto Dibelius, der 1945 noch meinte, die Demokratie werde in Deutschland keinen Erfolg haben, weil sie eine fremde Ideologie sei. Vom Berliner Bezirk Zehlendorf aus rief er die alten Strukturen der Brandenburger Provinzialkirche wieder ins Leben. Und wie selbstverständlich reklamierte Dibelius dabei die wichtigsten Leitungsfunktionen für sich. Durch einen „souveränen Akt der Selbsternennung“, so der Historiker Manfred Gailus, trug er jetzt den Titel „Bischof von Berlin“, war Präsident des Konsistoriums, Generalsuperintendent der Kurmark und – ein extra Amt – Generalsuperintendent von Berlin. Darüber hinaus stand Dibelius noch dem Evangelischen Oberkirchenrat vor, der verbliebenen altpreußischen Rumpfkirche. Diese im deutschen Protestantismus einmalige Ämterhäufung lässt sich nicht allein mit der damaligen Notsituation der Kirche begründen.
Ein trauriges Beispiel für das menschliche Klima unter Bischof Dibelius ist der von den Nazis 1940 des Amtes enthobene Superintendent von Berlin-Spandau, Martin Albertz – für Manfred Gailus der eigentliche „Spiritus Rector“ des Berliner Kirchenkampfes. Otto Dibelius hätte Albertz vollständig rehabilitieren können, doch er unternahm keinerlei Versuch, ihn in sein früheres Amt wieder einzusetzen.
Als wäre es seiner Ämter nicht schon genug, ließ sich der Berliner Bischof dann auch noch im Januar 1949 auf der ersten ordentlichen Synode der EKD in Bielefeld-Bethel zum Ratsvorsitzenden wählen. Als solcher sollte Dibelius in den Fünfzigerjahren die evangelische Kirche fest an der Seite Adenauers positionieren, für Westintegration und Wiederbewaffnung. Und obwohl er einst dem Reichstag, in dem erstmals die Nazis mit den Deutschnationalen über eine eigene Mehrheit verfügten, seinen Segen erteilt hatte, plagten ihn keine Skrupel, ebenso bei der Eröffnung des Ersten Deutschen Bundestags am 7. September 1949 die Festpredigt zu halten. Im Mittelpunkt stand der Psalm: „Ich schwöre und will’s halten, dass ich die Rechte deiner Gerechtigkeit halten will“ (119,106). Auf seine Predigt und Rolle aber beim „Tag von Potsdam“ ging er mit keiner Silbe ein. Und dabei blieb es.
Im selben Jahr verkündete sein Stellvertreter im Rat der EKD, Johannes Lilje, das Ende aller Aufarbeitung: „Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluss zu kommen. […] Wir haben von Gott eine Frist bekommen für die Klärung unserer eigenen Vergangenheit. Nach menschlichem Urteil ist die Frist vorbei.“
Karsten Krampitz ist Schriftsteller und Historiker. In diesem Frühjahr erscheint im Alibri-Verlag sein Buch „Jedermann sei untertan. Deutscher Protestantismus“
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