: Türkisblaue Herrlichkeit
Mauritius – ein europäischer Luxustraum im Gewand des dienenden Kreolen. Die Perle im Indischen Ozean ist multiethnisch, regenreich, frankophil und international. Deutsche suchen im Phrasenbuch nach der Wendung „Zitrone nur in Kristallweizen“
von MARKUS BEUTNER-SHIRP
Vom britischen Empire blieben der Republik das Wetter, der Linksverkehr und die tätowierten Touristen. Frankreich hinterließ sein europäisches Schulsystem und den besitzenden Teil der Bevölkerung. Und ein Holländer, Wybrandt van Warwyck, gab ihr 1598 den Namen: Mauritius.
Im Shuttle genannten Kleinbus riecht es nach Buttersäure und Regen. Der Fahrer lächelt, schnippt Asche aus dem Seitenfenster und grüßt hupend in den Gegenverkehr. Wir überholen meckernde, rostbetupfte Mopeds: Obst, Gemüse und rohes Fleisch in Plastikkisten. Abgase und Stimmen wehen herein. Männer mit filterlosen Zigaretten hocken an Bushaltestellen und starren auf ihre ausgetretenen Schuhe. Kleiderbündel wippen vorüber, darunter leuchten die Hennasträhnen und Stirnpunkte verheirateter Hindufrauen. Greise nicken hinter dem Bretterbruch ihrer Verkaufsstände imaginären Kunden zu. Ihr Angebot lässt sich in dem kurzen Augenblick unserer Passage erfassen: drei Kolben Mais, eine Hand voll Batterien, Blätter, Hühnerfüße, Anturien. Später die schrägen Blechwände im Graffito der Hausnummern, Adressen aus der Spraydose, Paketschnur als Wäscheleine: Petite Rivière Noire. Kinder strecken uns grüne Kokosnüsse entgegen. Hierher haben sich die Arbeitslosen zurückgezogen, damals, nach der Abschaffung der Sklaverei. Zwischen 1835 und 1838, als auf den Zuckerrohrplantagen Platz gemacht werden musste für die „Kulis“, jene aus Indien herbeigeschafften frischen Arbeitskräfte. Noch 1814 galten über 80 Prozent der 78.000 Einwohner dieser Insel als persönliches Eigentum ihrer „Herrschaften“. 46 Jahre später lebten bereits 200.000 Menschen auf Mauritius, der Großteil mit Anspruch auf schwerste Landarbeit und minimalen Lohn.
Fünfundvierzig Minuten später sind wir im Land der „grands blancs“, der großen Weißen. Es gehört den zwei Prozent Frankomauritiern und ausländischen Investoren. Das blieb von den 95 Jahren „Ile de France“ übrig. Noch immer schreibt sich Bildung wie „Paris“, bedienen die Gesetze der Republik den „Code Napoléon“. Kreol, für vier Fünftel der Mauritier die Muttersprache, ist als offizielle Landessprache nicht existent. Das Personal hier parliert französisch und rekrutiert sich aus den sechzig Prozent der indischstämmigen Bevölkerung.
Hier dominieren dunkle Hölzer, Metall und britischer Rasenschnitt. Hotelneubauten im Manufactum-Stil hocken neben kasernengleich umzäunten Golfplätzen. Aseptische Aufgeräumtheit kennzeichnet die stetig wachsende Zahl der in Privatbesitz befindlichen Grundstücke. Bedienstete in weißer Livree säumen mächtige Schlagbäume, servieren auf silbernen Tabletts Cocktails, Erfrischungstücher, Eistee und Visitenkarten. Belle Mare Plage, Ambassador, Prince Maurice.
Polyglott stellt sich an der Poolbar jede Form von Tagesalkoholismus zur Schau. Graumelierte Herren flirten mit beschlagenen Linien-Aquavit-Pinnchen, während die Angetraute Pommes frites durch ihre Tandoori-Sauce kreiselt. Franzosen bitten um mehr Ricard für das Wasser, Engländer übersetzen die Frakturschrift ihrer blackworks, Deutsche durchstöbern das französische Phrasenbuch nach der Wendung „Zitrone nur in Kristallweizen“. So wächst Europa zusammen.
Seit 1987 übersteigt der industrielle Export den der einst wichtigsten Einnahmequelle Zucker. Mit der Einrichtung der Freihandelszone 1971 wurde das Land für Investoren attraktiv. Und auch das „Ferienziel Mauritius“ boomt. Nach der hohen Gesellschaft der Siebziger- und Achtzigerjahre finden zunehmend Pauschalreisende den Weg.
Jedem zweiten Haus wurde eine Tauchschule inklusive Boot und Leihequipment angegliedert. Dessen Beschaffenheit signalisiert Qualitäten von „empfehlenswert“ bis „suizidal“. Die Reviere sind markiert. Zeitgleich besuchen die Gruppen den maritimen Friedhof nie an derselben Stelle. Ein Hauch von Unberührtheit soll bleiben. Vergebens, denn die Abwässer der Textilindustrie haben in Kooperation mit der globalen Erwärmung der Weltmeere das Riff längst großflächig skelettiert. Weiß und tot spreizen sich zahllose Korallen unter bräunlichen Algen. Jenseits des Riffs offenes Meer: Kaiserfische, Barrakudas, Muränen. Eine Weite, ein anderes Blau, das den Atem nimmt. Mein professioneller Begleiter deutet auf Sehenswertes: dort der Steinfisch, Seeanemonen, ein Oktopus.
Auf einer Tagestour begleitet mich Nitin. Er arbeitet als Kellner, Reinigungskraft und Gelegenheitsreiseführer im Coco Beach. Vier Stunden lang fahren wir über die Insel. In der Hauptstadt Port Louis angekommen, frage ich ihn nach den Ereignissen von 1999. Der Tod des inhaftierten Reggae-Sängers Joseph Topize hatte seinerzeit zu massiven Protesten geführt. Nicht verflüchtigen wollte sich das Gerücht, er sei das Opfer einer von offizieller Seite tolerierten Polizeigewalt geworden. „Ich bin Hindu, nicht Kreole, Monsieur.“
Das viel zitierte „friedvolle Miteinander der Ethnien“ verdankt sich auch einem toleranten und generellen Desinteresse. Wo das „World Factbook“ des CIA glaubt, dass „gelegentlich schlechtes Wetter und steigende Zuckerpreise in der kreolischen Gemeinschaft zu Protesten über den Lebensstandard“ geführt haben, sprechen andere von „la malaise créole“. Einer Krankheit, die der präsidialen Republik nicht erst seit ihrer Unabhängigkeit am 12. März 1992 anhaftet. Mit einem Bevölkerungsanteil von unter 30 Prozent stellen die Kreolen heute eine unterdrückte Minderheit dar.
Port Louis ist ein architektonisches Desaster: turmhoch pathetisch verspiegeltes Glas hinter einer Betondiagonale, die an das Logo der Deutschen Bank erinnert. „Das ist unser neues Zentrum für Computertechnologie. Mauritius wird bald in Sachen Informatik die Nummer zwei – direkt nach den USA!“, erklärt Nitin.
Es regnet jeden Tag. Die Wirkung gleicht exakt einem Saunaaufguss: Asphalt strömt Schwüle aus, Kleidung und Haut verschmelzen juckend. Dann, drei Tage vor der Abreise, entspricht der Himmel einen Mittwoch lang den Behauptungen der Werbeindustrie. Am Abend hat das Meer einen ungewöhnlich schönen Glanz. Wie flüssiger Zucker umspült es warm meine Zehen.
Mit jeder Welle sinke ich tiefer in den feinkörnigen Sand. Man könnte doch bleiben, denke ich. Doch mit der brüllenden Ankunft der Außenbordmotoren verschwindet jeder Zweifel. Und als sie die monströse Bananen-Plastiksitzfrucht auf den Strand ziehen, flüchtet meine Seele: lautlos heimwärts – in das andere Europa.
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