: Theater der Angst
Oper Die Schönheit von Karl Amadeus Hartmanns „Simplicius“ speist sich aus seiner politischen Haltung: In Tatjana Gürbacas Regie wirkt sie unmittelbar wie selten
von Benno Schirrmeister
Es ist wirklich Angst. Angst vor Oper haben ja viele. Aber Angst in der Oper zu bekommen, geschockt zu sein – das gibt’s fast nie. Und es ist mit das Beste, was im Theater passieren kann: Die Aufführung entfaltet eine eigene, eine persönliche Relevanz. Plötzlich geht das Werk das Publikum an, unmittelbar, wirklich. Kann Kunst mehr sein?
Unmittelbar nach dem letzten Ton, fast zu früh, hatte großer Jubel eingesetzt. Besonders viel Beifall hat selbstverständlich Marysol Schalit bekommen. Mit Grund, denn die Sopranistin brilliert wirklich in der Titelrolle. Und ebenso berechtigt euphorischen Applaus gab es bei der Premiere für Luis Olivares Sandoval: Dessen warmer und tiefer Tenor schmilzt so zärtlich dahin, dass man sich unwillkürlich wünscht, von dieser Stimme adoptiert zu werden. Also genau wie Sandoval als Einsiedel im mittleren Bild der Oper „Des Simplicius Simplicissimus Jugend“ von Karl Amadeus Hartmann sich des einfältigen Protagonisten annimmt.
Aber der wahre Star des Abends ist doch der von Alice Meregaglia hervorragend eingestellte Chor. Regisseurin Tatjana Gürbaca hat ihn dazu gemacht. Sie hat nämlich seine Sänger für ihre Inszenierung, die vergangenen Samstag Premiere feierte, ins Publikum gesetzt, und zwar nicht als Block, sondern vereinzelt und übers ganze Parkett verteilt. Und wenn der Mann hinter Ihnen oder gar der Sitznachbar anfängt, plötzlich bösartig zischend das Florian-Geyer-Lied zu singen, dann – .... sorry, natürlich geht das jedem anders.
Es ist jedenfalls keine Schande, zu erschrecken. Denn das 1885 von einem bayrischen Dichteroffizier getextete historisierende Kampflied war in der Entstehungszeit groß in Mode. Es war ein Schlager der SS. In ihrem vom Rasse- und Siedlungshauptamt herausgegebenen Liederbuch findet es sich auf Seite 51f. Es ist einschlägig. Und eben drum zitiert Hartmann es im Schlussbild seiner Oper, als blutgierige Horden in die Szene einbrechen: Es bedient den historischen Kolorit. Florian Geyer ist eine Figur aus den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts, die Oper spielt im 30-jährigen Krieg: Sie verengt Christoffel Grimmelshausens barocken Schelmenroman auf drei Bilder: Simplicius schläft beim Schafehüten ein und wird von Landsknechten geweckt, die durch die Gegend morden. Er trifft auf den Einsiedel, der ihn bei sich aufnimmt – und stirbt. Danach gerät Simplicius in die verlotterte höfische Gesellschaft, die auch wieder hingemetzelt wird. Es ist ein Totentanz. Schrill komisch. Und so hoffnungslos.
Andererseits macht das widerwärtige Lied den selbstgefälligen Rückbezug der Schwarzhemden auf die Mordtaten der Vergangenheit so greifbar: Hartmann schreibt seine Oper, beraten vom exilierten kommunistischen Dirigenten Hermann Scherchen 1934/1935. Und er komponiert sie, weil ihm klar ist, worauf alles hinausläuft. Ja, Hartmann scheint von all dem bereits zu wissen, wovon später keiner etwas auch nur geahnt haben wird.
Und so, wie Hartmann den Schrecken in den Liedern der Nazis aufdeckt, so verleiht er auch den Opfern Stimmen. Clemens Heil bringt sie mit den zum Kammerorchester plus extraviel Schlagwerk ausgedünnten Philharmonikern zum Leuchten: Die sei’s als slawisch, sei’s als bolschewistisch verfemte Musik, hier, in dieser Partitur ist sie durch Zitate aus Werken Sergej Prokofjews und Alexander Borodins aufbewahrt. Hartmann rettet mit ihr jüdische Melodien vor der Auslöschung: Schon in der Ouvertüre erklingt, in den Bratschen, eine Reminiszenz ans Elijahu ha-navi, das traditionell nach dem Passah-Mahl gesungen wird. Schlüssig übersetzt Gürbaca die Impulse von Partitur und Libretto – einschließlich seiner Zersplitterung.Statt einen epischen Fluss zu behaupten, lässt sie an disparaten Punkten spielen. Zur Hauptbühne wird eine kreisrunde Aussparung, die Klaus Grünberg aus einer den gesamten Guckkastenraum abdeckenden Furnierholzwand ausgeschnitten hat. Ein Podest rechts des Orchesters, das auf dem abgedeckten Graben spielt, dient als Standort des Erzählers – dessen bewusst altkluge Rezitation mindestens vor Kitschgefahr bewahrt. Und im Schlussbild irrt Simplicius vor dem Orchester durch die erste Parkettreihe, und Marysol Schalit presst die Brille des toten Ersatzpapas vor die Augen, als suche sie, wie ein panischer Diogenes, im Publikum nach Menschen.
Aus Harmanns entschiedener Dissidenz speist sich die Schönheit seines Werks. Sie ist politisch, und vielleicht hat das verhindert, dass sie, anders als das Florian-Geyer-Lied in der bundesrepublikanischen Friedensarmee, eine Nachkriegskarriere in den mitläufersatten Spielplänen staatlicher Opernhäuser hatte. „Wir haben wahrlich Grund, den Simplicius jetzt zu spielen“, hat Gürbaca im Vorfeld der Bremer Erstaufführung mit Blick auf die politische Lage gesagt, zu Recht. Und hoffentlich ist es nicht schon zu spät.
Termine: 4., 15., 23. 2., 19.30 Uhr, Theater Bremen
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