: Trolle auf den Schultern von Trollen
TheaterdiscounterIn Tarnuniformen durchs Halbdunkel: Das Desinformationshappening „Gog/Magog“ schwelgt am Beispiel der Ukraine im Wissen um die Dürftigkeit unseres Wissens bei Konfliktlagen
von Tom Mustroph
Die Stimmung ist kuschelig. Ein Lagerfeuer ist aus den blinkenden LEDs diverser Kommunikationsinstrumente aufgebaut. Der Songwriter Brendon Miller sitzt daran und singt mit samtener Stimme von Scharfschützen und der Natur. Grillen zirpen, es können auch Kugeln sein. Auf den drei Videowänden ringsum wiegt sich Gras sanft im Wind. Mitten in einer Steppenlandschaft steckt ein Autowrack. Ein postapokalyptisches Bild, das sanft, das friedlich und das auch traurig macht – und alle nur noch enger kuscheln lässt in diesem paramilitärischen Camp, das die Gruppe Internil für die erste Station ihres „Gog/Magog“-Projekts in den Theaterdiscounter gebaut hat.
Eine auf mehrere Etappen angelegte „Desinformationskampagne“ soll das Projekt sein, das die Netzdiskurse zu aktuellen Krisen erforschen will. Auftaktthema: die Ukraine.
So huscht die Internil-Crew in selbst gefertigten Tarnuniformen durch das Halbdunkel. Das Material ist grasartig gebüschelt. Es macht aus den Kämpfern eine Abart des Yeti, nicht in der Variante Schneeweiß, sondern der Variante Tarnfleck. Zur stärkeren War Credibility hat Internil-Häuptling Arne Vogelgesang sogar etwas Kunstblut auf die hoch aufragende Fellmütze auf seinem Schädel appliziert. Unter der Mütze quillt ein schwarzer Bart hervor, der jeden Taliban, Al-Qaida-Follower oder IS-Abenteurer glücklich machen würde.
Vogelgesang beschäftigt sich seit Jahren mit politischem Extremismus, dem der Rechten und der Dschihadisten zumeist, und er hat seinen Körper jenen Techniken ausgesetzt, die aus blässlichen männlichen Zeitgenossen fanatische Kämpfer unter welcher Fahne auch immer machen.
Internils Fahne freilich ist das metaphorische Banner der Performancekunst. Und deshalb wird hier im Theaterdiscounter auch nicht gekämpft. Es wird nicht rekrutiert. Es wird vielmehr reflektiert. Reflektiert vor allem über das Ende der Reflexion.
Denn die Performer entwickeln eine stets wachsende diabolische Freude über die dürftige Basis der Faktengebäude, die Teilnehmer und Beobachter von Konflikten über ebendiese Konflikte gewinnen – und das auch noch in paradoxem Widerspruch zur steten Zunahme von Überwachungstechnologien und -mentalitäten.
Wann hatte man schon einmal bei einem Flugzeugabsturz einen technisch versierten Augenzeugen, der sogar noch das Fernglas zur Hand hatte? Beim Absturz der Malysia-Airlines-Maschine auf Flug MH17 über der Ostukraine wollte der Rentner Lew Bulatow auf diese Weise ein Jagdflugzeug beobachtet haben, wie es „bah, bah, bah“ mit drei Schüssen – der letzte leicht verzögert – die Passagiermaschine vom Himmel holte, deren Trümmer dann unweit seines Standorts aufschlugen. Bulatow hat seine Geschichte vor allem für niederländische Videokameras erzählt. Internil-Performerin Marina Miller Dessau erzählt sie nun per Channel-Technik uns.
Auf ihre Kopfhörer ist der O-Ton gelegt, den sie in einer Sprache ihrer Wahl – sie beherrscht Russisch, Deutsch und Englisch – aus dem Mund quellen lässt. Dazu gibt es ein Bild Bulatows und die deutsche oder englische Übersetzung. Zudem werden Miller Dessaus Bewegungen, mit denen sie Bulatow nachahmt, noch getrackt, was man auf einem Monitor neben ihr sehen kann. Man hat Auswertungsdaten auf vielerlei Ebenen. Ob die Geschichte aber stimmt, ob der Zeuge ein Zeuge ist oder nur ein (Des-)Informationstroll, das weiß man nicht. Ebenso wenig weiß man es bei den anderen Zeugen, die Miller Dessau aufruft. Zu den Scharfschützenopfern auf dem Kiewer Maidan etwa oder den Ausschreitungen am 2. Mai 2014 in Odessa.
Parallel dazu nimmt Vogelgesang am Google-Maps-Kartentisch eine Generalstabsperspektive ein. Aber auch in seine Erzählungen über die Sniperstellungen in Kiew, die sich aus Auswertung diverser Handyfotos und -filmchen von Augenzeugen und Opfern speisen, schleichen sich widersprüchliche Deutungen ein.
Der Faktenchecker im Kriegskostüm verfällt immer mehr den Narrationstechniken des Märchenonkels. Das lullt ein. Man nickt und wippt zudem zu Brandon Millers Musik und ist trotz Indoor-Seins open-air-selig. Dazu zirpen die Grillen, vielleicht sind es auch Kugeln – egal –, und das Gras wiegt sich im Wind.
Am Ende weiß man an diesem Donnerstag bei der Premiere nicht, ob man wütend werden soll über die Harmlosigkeit des Abends oder wieder einmal erschreckt über die Dürftigkeit von Informationsquellen auch für Hauptnachrichten.
Als Erkenntnis nimmt man immerhin mit, dass das schöne aufklärerische Gleichnis über den forschenden Menschen der Nachantike, der nichts anderes sei als ein Zwerg auf den Schultern von Riesen, nun von dem Bild der Trolle auf Schultern von Trollen abgelöst ist.
Theaterdiscounter, Sa., 20 Uhr
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