: Die verlogene Männlichkeit
ERSTAUFFÜHRUNG Schon auch Vorschein des Arabischen Frühlings: „Rituale, Zeichen, Veränderungen“ des syrischen Autors Sadallah Wannus ist jetzt endlich im Theater Aufbau Kreuzberg zu sehen
VON JESSICA ZELLER
„Herr Wannus, ich habe eine schlechte Nachricht für Sie: Sie haben nicht mehr lange zu leben.“ Der Chefarzt und die Krankenschwestern, die sich um den Patienten im weißen Eisenbett auf der Bühne scharen, zücken ihre Klemmbretter und Abhörgeräte. Doch was soll’s, die Diagnose ist ohnehin fatal! Der Kranke solle es sich doch erst mal vor dem Fernseher gemütlich machen. Das Stationspersonal quetscht sich zum Patienten Wannus aufs Bett und verfolgt von dort gespannt das seichte Abendprogramm, das stumm auf einem imaginären Bildschirm flackert. Der Kranke jedoch nimmt sein Heft zur Hand und verfasst ein Theaterstück.
Das Werk „Rituale, Zeichen, Veränderungen“, das heute Abend im Theater Aufbau Kreuzberg (TAK) seine deutsche Erstaufführung hat, ist auch ein Stück im Stück. Mitte der neunziger Jahre erfährt der namhafte syrische Theaterautor Sadallah Wannus von seiner finalen Krebsdiagnose. Er beendet eine mehrjährige Schaffenspause und verfasst in kurzer Zeit mehrere politisch brisante Stücke mit Charakteren, die auch vor der expliziten Formulierung ihrer Sexualität nicht zurückschrecken, darunter 1994 das nun gespielte Stück. Knapp drei Jahre später stirbt er.
Im Zentrum stehen hier die „Notabeln“ von Damaskus Mitte des 19. Jahrhunderts, deren Machtgerüst durch die Handlungen einer Frau ins Wanken gebracht wird. Mu’mina, zu Beginn des Stückes unterdrückte und betrogene Ehefrau des Obersten Richters, beschließt, sich scheiden zu lassen und freiwillig Prostituierte zu werden. Sie sieht darin die einzige Möglichkeit, ihrer beschränkten Freiheit Ausdruck zu verleihen. Auch bezeichnet sie die Prostitution als die Kehrseite jener herrschenden verlogenen Männlichkeit, die Frauen nur als Hure oder „heilige Ehefrau“ kennt, denen man beiderseits keinen Respekt zolle. Diese Männlichkeit, so innerlich zerstritten sie auch ist, vereint nun all ihre Kräfte, um sich gegen diesen Angriff zu schützen. Denn Mu’minas Kritik ist nicht nur eine am Verhältnis der Geschlechter. Implizit darin enthalten ist die Forderung nach politischen Freiheiten, die mit dem Sprengen der persönlichen Ketten untrennbar verbunden sind.
„Es gab schon ein paar Versuche, ‚Rituale, Zeichen, Veränderungen‘ im arabischen Raum auf die Bühne zu bringen. Aber das Stück wurde dermaßen zensiert, dass seine eigentliche Botschaft verloren ging“, erzählt Moritz Pankok, künstlerischer Leiter des TAK und gemeinsam mit Abdelrahman El Sayaad Regisseur der Aufführung. Auch bei Pankok ist es bereits der zweite Anlauf. Ende der neunziger Jahre scheiterte die Realisierung an finanziellen Engpässen, mit denen freie Theaterproduktionen oft konfrontiert sind, aber auch an den unterschiedlichen Interpretationen des Textes im Blick auf die Rolle der Frau durch den Regisseur und die mehrheitlich arabischstämmigen Darsteller.
Diesmal setzt sich das Team vor allem aus jungen deutschen Schauspielern zusammen, auch wenn die syrische Hauptstadt Damaskus und ihre Einwohner als Setting des Stücks nachvollziehbar bleiben. Die zwei weiblichen Hauptdarstellerinnen Paula D. Koch und Tara Jahan, Mu’mina und ihre Lehrmeisterin, die Edelnutte Warda, könnten mindestens aus Südeuropa stammen. Christian Arndt Sanchez, der sowohl den Patienten Wannus im Krankenbett als auch den Mufti von Damaskus überzeugend darstellt, wirkt wie ein Einwohner des arabischen Raums. Nur der Chefarzt von Wannus und Polizeichef von Damaskus, ebenfalls eine Doppelbesetzung, gespielt von Julius F. Brauer, ist strohblond.
„Wir wollen nicht nur eine arabische Geschichte erzählen“, begründet Regisseur Pankok diese Besetzung. Zwar ginge es einerseits darum, einem zeitgenössischen arabischen Text zu seinem Aufführungsrecht verhelfen, doch seien die darin enthaltenen Themen universell: „Ich glaube, dass hier sehr viel über Selbstverwirklichung und die eigene Freiheit gesprochen wird. Das geht uns alle an.“
Auch Sadallah Wannus betonte im Vorwort zum Stück den „fiktiven Rahmen“ des Geschehens und die Intention, „eine stets aktuelle Problematik zu hinterfragen“. Und doch erscheint die Geschichte von Mu’mina und den Männern aus einer deutschen Perspektive recht weit entfernt. Weder sind die Geschlechterverhältnisse derart dichotom, noch sind die politischen Freiheiten so stark beschnitten. Was jedoch unbedingt im Werk zum Vorschein kommt mit seiner Forderung nach persönlicher Freiheit und der Problematisierung des im Prinzip „Mann“ verkörperten Machtapparats, sind die Stimmen des Arabischen Frühlings. 1994, also viele Jahre vor den Aufständen, wurden sie von einem Intellektuellen der Region bereits zu Papier gebracht. Und bis eben jetzt im arabischen Raum und im Westen verschwiegen.
■ „Rituale, Zeichen, Veränderungen“ im TAK, Prinzenstr. 85F. Premiere 29. 11., 20 Uhr. Weitere Aufführungen 30. 11./1. 12., sowie 24.–27. 1.2013, 13/8 Euro
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen