: „Der Zwang ist weg“
Werte Der Journalist Maximilian Probst hat ein Plädoyer für die unzeitgemäße Tugend der Verbindlichkeit geschrieben. Ein Gespräch über den Geruch des Biedermeier, die Härten des selbst gewählten Gesetzes und 60 Geschlechter bei Facebook
Interview Friederike Gräff
taz: Ich rufe zehn Minuten später an als zur verabredeten Zeit – ist das noch verbindlich, Max?
Maximilian Probst: Es gibt sicher Leute, die dann eine kleine SMS vorausschicken, in der steht: „Es wird zehn Minuten später.“ Das wäre verbindlicher gewesen. Andererseits sind wir miteinander vertraut, ich wusste, dass der Anruf kommt, deswegen war es mir egal.
Du schreibst, dass mit der Technik ein Verbindlichkeits-Hindernis in unser Leben tritt und so ist es auch hier, weil die Batterien meines Aufnahmegeräts leer sind. Kann ich gleich noch einmal anrufen?
Zweiter Anruf
Du schreibst darüber, dass Verbindlichkeit auch etwas mit Vertrauen zu tun hat.
Jetzt habe ich das Problem, dass die Batterien meines Telefons gleich den Geist aufgeben und mein Handy ist kaputt. Kannst du mich bei unseren Nachbarn anrufen?
Sicher.
Dritter Anruf
Wir waren bei der Frage, ob dieser Anruf noch verbindlich ist.
Man könnte sagen, es ist taz-like, da kann man zehn Minuten Verspätung erwarten. Verbindlichkeit kann man immer nur in wechselnden Kontexten bestimmen, je nachdem, wer sie einfordert und in welchen Zusammenhängen sie sich abspielt.
Das heißt, es gibt keine allgemein gültige Definition von Verbindlichkeit?
Das gab es einmal, das waren aber soziale Normen, die mit Zwang funktioniert haben. Das Schöne an der Verbindlichkeit heute ist, dass der Zwangsapparat dahinter weggefallen ist. Man kann unverbindlich sein und gut damit durch die Gesellschaft kommen. Unter diesen Bedingungen wird die Verbindlichkeit, zu der man sich selbst entschieden hat, umso schöner.
Im Untertitel deines Buches heißt es: Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend. Was ist gegenwärtig unzeitgemäß an der Verbindlichkeit?
Es ist ungünstig und oft geradezu nachteilig, wenn man sich als verbindlich erweist, wenn man Verbindlichkeit als das Gegenteil von Flexibilität und Flexibilisierung auffasst. Wer sich nicht festlegt, hat heute in der modernen Arbeitswelt recht gute Chancen. Der Imperativ, der schon 1973 von dem Kybernetiker Heinz von Foerster aufgestellt wurde, ist in Netzwerkgesellschaften umso treffender, nämlich: Man solle stets so handeln, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird. Eine Welt im rasenden Wandel macht es schnell erforderlich, auf ein neues Pferd zu setzen.
Umso rückwärtsgewandter wirkt die Sehnsucht nach der Verbindlichkeit. Du versuchst gleich zu Beginn des Buchs, dein Konzept von der Verbindlichkeit der Vormoderne, die nach biedermeierlicher Behaglichkeit riecht, abzugrenzen.
Man muss zuallererst sagen, dass dieses Zerbröseln der Tradition auch etwas Positives hatte. Wenn man das Wort „Verbindlichkeit“ nimmt, steckt darin Bande, Bund, auch bond – Fessel. Bei Jean-Jacques Rousseau heißt es: Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Banden. Das sind die sozialen Bande und man muss anerkennen, dass diese Auflösung gesellschaftlicher Verbindlichkeit eine Emanzipationsgeschichte ist. Jetzt sind wir an einem Punkt angekommen, wo wir einen großen Freiheitsgewinn haben – und ich denke, dass man diese Freiheiten nutzen muss, um sich neu festzulegen und zwar progressiv statt reaktionär.
Siehst du noch Reste der alten normativen Verbindlichkeit, die es auszuräumen gilt?
39, studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik in Hamburg. Danach arbeitete er in Wien für den Passagen-Verlag und absolvierte ein Volontariat bei der taz in Hamburg. Seit 2011 schreibt er vorwiegend für die Zeit. Sein Buch „Verbindlichkeit. Plädoyer für eine unzeitgemäße Tugend“ ist 2016 bei Rowohlt erschienen.
Die alten Geschlechtsverhältnisse sind erst in den 1990ern aufgebrochen wurden und da gibt es viele Verbindlichkeiten, die noch aufzusprengen sind. Das ist eine der fundamentalsten Verbindlichkeiten gewesen, danach bleibt nicht viel. Heute hat man bei Facebook 60 Geschlechtsmöglichkeiten und da geht es jetzt darum, eine auszuwählen und dann auch dabei zu bleiben.
In deiner Lesart wird Verbindlichkeit zur Verheißung, als Kitt einer transzendental orientierungslosen Gesellschaft.
Es ist eine Chance, projektiv zu entwerfen, was die Gesellschaft zusammenhält – und das angesichts einer ökologischen Katastrophe. Die sehe ich in dieser Hinsicht als große Chance.
Als Chance?
Ja, indem man jetzt eine Dringlichkeit der Verbindlichkeit auch gegenüber der Umwelt und dem kommenden Leben hat. Man hat jahrhundertelang nicht auf der Reihe gehabt, dass der Mensch in die Natur eingewoben ist und dass sie mehr ist als bloße Ressource und Mülleimer.
Wie verhindert man, dass Verbindlichkeit zu einer Haltung wird, die eine Gruppe zusammenhält, indem sie andere ausschließt, eine Pegida-Verbindlichkeit?
Ich sehe da keine Möglichkeit zum Ausschluss, nach welchen Kriterien sollte man sie begrenzen? Es ist ein Prinzip, das vom Ich über den anderen zu einem universalistischen Wir reicht.
Auch für die Zweierbeziehung hältst du Verbindlichkeit für segensreich. Wie unterscheidet sich die von der Treue?
Der Begriff der Treue kommt sehr viel fundamentalistischer daher. Es gibt kein Pardon, bis dass der Tod uns scheidet, während die Verbindlichkeit aus dem fundamentalistischen Denken ausschert in das schwache Denken…
… das bei dir positiv besetzt ist?
Ja, es folgt einem Begriff des Philosophen Gianni Vattimo, und geht davon aus, dass man auch einmal schwach werden kann. Es ist natürlich schwerer, einem Gesetz zu folgen, das man sich selbst gibt, als einem, das Zwang und Gewalt androht. Deshalb muss man in Rechnung stellen, dass man ihm nicht immer folgen kann.
Die Härten der Verbindlichkeit beschreibst du sehr anschaulich. Worin liegt ihre Schönheit?
Es ist ein Abenteuer: Sobald wir verbindlich werden, geben wir das Heft des Handelns zu einem gewissen Grad aus der Hand. Ich gebe mein Wort, zu dem ich stehen werde und was dazwischen geschieht, wird geschehen.
Die Passivität, die darin liegt, ist heute extrem negativ besetzt.
Das ist ein großes Problem, weil die Schönheit dieses Existenzentwurfs nicht gesehen wird. Für mich ist die ständige Frage, wo kann ich mich einbringen, wie bin ich in dieser Situation zu bewerten, ein Teil von Kontrollfetischismus.
Du betonst, dass sich die Schönheit der verbindlichen Beziehung nicht in eine hermetischen Zweieridylle einzwängen lässt. Wie muss man sich deren Ausweitung vorstellen?
Man kann sich diese Zweierbeziehung als Zimmer mit Fenster, oder vielleicht besser als Zimmer mit einer Tür nach draußen vorstellen. Aus diesem Zimmer schaut man auf die Welt, macht aber auch die Türen gelegentlich auf, um zu lüften oder vielleicht auch einen kleinen Spaziergang zu machen, gemeinsam oder allein. Der Philosoph Søren Kierkegaard hat gesagt, dass man sich immer in einem Dritten liebt. Man könnte auch sagen: Wir haben immer eine Vorstellung, was die Welt ist, was andere lieben.
Der Dritte ist dann Chance und Gefahr in einem.
Ja – und dieses Dazwischen- oder Dazukommen eines anderen gilt auch sonst: In einer neuen technischen Welt, wo man sich vielleicht verabredet und dann kommt ein Anruf mit dem Hinweis auf eine möglicherweise attraktivere Verabredung. Das ist für mich zentral: dass man sich nicht abschließen kann, sondern immer offen ist zur Welt hin. Wir könnten unser vollkommenes Glück nur in der richtigen Gesellschaft finden und wenn wir in unseren Beziehungen scheitern, dann ein Stück weit auch, weil die gesellschaftlichen Umstände die Beziehung, die wir führen wollen, behindern.
Heute liest Maximilian Probst um 20 Uhr im Schauspielhaus Hamburg aus seinem Buch
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