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Bühnencomic und Psychokomödie

GLÜCKSSPIEL In Hamburg zeigt Jan Bosse Dostojewskis „Der Spieler“ als ironisches Theater der Verführung. In Lübeck macht Mirja Biel daraus ein satirisches Entzauberungstheater. Sehenswert sind beide Inszenierungen

Betörend luxuriös: Am Thalia Theater inszeniert Jan Bosse den „Spieler“ als ironischen Blick auf eine blutleere Geldgiergesellschaft Foto: Fabian Hammerl

von Jens Fischer

Umgerechnet ist das nicht viel. Etwa 100 Euro verzockt durchschnittlich jeder Norddeutsche pro Jahr an Daddelautomaten. Multipliziert mit der Bevölkerungsanzahl ergeben sich aber gravierende Summen. Allerdings setzen nur wenige ihr Geld auf Glück und ernten Pech. Die Zockerdienstleister leben vor allem von den Spielsüchtigen. Um Infektionsherde, also erst mal das Angebot der Münzen fressenden Geräte zu verringern, werden Spielcasinos in Niedersachsen nur noch im Abstand von mindestens 100 Metern genehmigt.

In den Nachbarbundesländern ist das fürs Hamburger Thalia Theater und Theater Lübeck erst mal kein Problem: sie bauen 70 Kilometer voneinander entfernt einen Tempel für Spielsüchtige auf die Bühne, um deren Krankheit zu thematisieren. Gespielt wird dabei aber mit einem ungeschriebenen Gesetz für benachbarte Theater, nicht dasselbe Stück zur gleichen Zeit ins Repertoire zu heben, wenn sich die Besuchergruppen der Bühnen überschneiden.

Es sei denn, radikal gegensätzliche Entwürfe reizen zum Vergleichen. Dafür werden Regiestar Jan Bosse auf der Experimentierspielstätte des Thalia Theaters drei Stunden für die Inszenierung von Dostojewskis autobiografisch gefärbtem Roman „Der Spieler“ gewährt. In Lübeck nimmt sich Mirja Biel, gebürtige Kielerin, auf der Hauptbühne des Schauspiels zwei Stunden.

Der eine will das große Geld-oder-Liebe-Epos, die andere das Suchtphänomen als existenziellen Kampf ausleuchten, die innere Leere wegzublenden. Ein mondäner Bühnencomic entsteht in Hamburg – eine Psychokomödie in Lübeck: zwei klassisch moderne Lösungen auf schauspielerisch sehr hohem Niveau.

Das Thalia prunkt erst mal mit dem höheren Ausstattungsetat. Die Bühne ist rot ausgelegt, von silbrig glitzerndem Tuch eingekleidet und mit Discofunkellicht illuminiert. Die (Schau-)Spieler agieren mitten im Publikum, das auf gepolsterten Barhockern sitzt, die um den pompösen Casino-Spieltisch gruppiert sind. Er dampft wie ein Höllenschlund. Mitten im Nebel geht der Croupier als Barpianist seinem Job nach. Ein betörend luxuriöses, ironisch gestaltetes Ambiente. Für ein Theater der Verführung.

In Lübeck steht Omas Cocktailsessel auf der Bühne, flankiert von Flamingostatuen, einem Ascher und dem derzeitigen Modegag der Bühnenbildkunst: ein Kubusgerippe als Verweis auf schwindende Privatheit und wachsende Unbehaustheit des modernen Menschen. Als Würfel natürlich auch eine prima Spiel-Metapher. „live or die“ steht an dem Objekt.

Aus Lautsprecherboxen kommt der sirrend verstörende Soundtrack einer verstörten Welt, der zu maschinell aufputschenden Rhythmen formatiert wird, wenn sich leeres Partygeplauder in wildem Zocken entlädt. Und schließlich in einer schön traurig dahingehauchten Version von Velvet Undergrounds „Pale blue eyes“ ausklingt, über die ein knarzig orgelnder Klangsturm hinwegfegt. Toll! Aber das sind nur Momente. Biel inszeniert eher sachlich satirisch – ein Theater der Entzauberung.

Die Nebenfiguren entsprechen an beiden Orten der etwas kolportagehaften, karikierenden Vorlage: drall typisierte Gecken sind es, die ihre schöne Oberflächlichkeit, Coolness, Amüsiergier, Langeweile und Geldnoblesse zur Schau stellen. Alle spekulieren auf den baldigen Tod der Tyrannentante Babuschka, der ein erlösendes Millionenerbe verheißt. Allerdings tritt die Alte tritt nicht ab, sondern auf und verspielt rotzfrech ihre Reichtümer.

Die Hauptfigur Alexej aber könnte unterschiedlicher kaum sein als in diesen zwei Aufführungen. Es ist der mit Minderwertigkeitskomplexen beladene Hauslehrer aus der Entourage eines russischen Generals, dessen Stieftochter Polina er liebt, sich aber für unwürdig hält, wiedergeliebt zu werden. Alexej ist Ich-Erzähler des Romans, Dostojewskis Alter Ego und Conferencier der Theaterabende.

Mit improvisiertem Witz und großen Entertainerqualitäten gibt ihn Sebastian Zimmler in Hamburg nimmersatt um Anerkennung buhlend als charismatischen Wüterich und zu kurz gekommenen Anbiederer: großspurig und verletzlich, rasend von Extrem zu Extrem. Er verachtet als Außenseiter die scheinheilig Reichen, inszeniert sich als Widerpart der Casinogesellschaft – und erliegt doch ihrer Faszination. Beispielhaft überlebensgroß. Ein Todgeweihter: „Geld ist doch alles, ich scheiß auf Würde.“

In Lübeck ist Jochen Weichenthal ein kumpelig netter, kugelbäuchiger Alexej, ein Drömel, beispielhaft normal. Der für Berichte aus seinen Abgründen immer mal wieder aus der Rolle ans Mikrofon treten muss. Dann wettert er gegen die Deutschen, die Kapital nur durch anständige Arbeit zu kulminieren wüssten. Er will schneller kulminieren und seine ganze mittelmäßige Existenz auf den Roulett-Tisch werfen. Schwärmt vom „Unbegrenzten“ und der Freiheit des Spiels, sich auch mal über den Abgrund zu beugen. Was er tut. Und kurz mal richtig fett gewinnt. Auf dass Geldnoten wie Märchenschnee per Windmaschine über die Bühne gewirbelt werden.

Ebenso in Hamburg, wo das Publikum inzwischen auf eine Zuschauertribüne versetzt wurde, um das Finale aus Distanz in Draufsicht besser beurteilen zu können. Auf die üppige Inszenierung der blutleeren Geldgiergesellschaft – lässt Bosse nun die bitterbösen Monologe Alexejs folgen, eine Abrechnung mit sich selbst und der Welt, sowie den vergeblichen Kampf, die verglimmenden Liebesfunken als Lebenselixier zu nutzen.

Während Lübecks Polina (Rahel Behringer) dabei noch etwas rührend Romantisches an den Tag legt, gibt Alicia Aumüller diese Rolle in Hamburg von Beginn an als eine eiskalt berechnende Gesellschaftszicke, die ihre Zuneigung vor Alexej bestens versteckt. Als er aber in Geld badet und meint, sie damit kaufen zu können, versucht sie mit einer so leidenschaftlichen wie verzweifelten Minute Sex alles zu retten. Vergeblich. Rien ne va plus. Alle Sehnsucht zerstoben.

Denn Alexej ist nicht mehr Alexej, sondern von Spielsucht verödet wie all die anderen Mannsbilder. Sie haben beim Roulette ihren letzten Einsatz verloren: sich selbst. Was dermaßen eindringlich inszeniert ist, dass es nicht weiter stört, dass die Spielsucht-Genesen der Erbtante, die nach Gesetzen des Trotzes spielt, als auch Alexejs, der nach Gesetzen der Wahrscheinlichkeitsrechnung spielt, in rasanter Comedy-Manier dem Gelächter preisgegeben werden.

Biel schaut in Lübeck auch mit Live-Video-Nahaufnahmen genauer hin, wie der Gewinn des ersten Rubels und Verlust des letzten Wertpapiers dazu antreiben, immer mehr gewinnen oder alles zurückholen zu müssen. Bis dieses unwiderstehliche Machtgefühl – alles sei möglich, der Spieler Herr seines Schicksals – als Selbstbetrug entlarvt wird.

Der Lübecker Abend ist dabei so spannend wie der Hamburger. So dass ein Dostojewski-Publikum in 70 Kilometer Entfernung auch zweimal begeistert werden kann.

Nächste Aufführungen in Hamburg: Di, 17.1., 20 Uhr, Thalia in der Gaußstraße; in Lübeck: Fr, 20.1., 20 Uhr, Kammerspiele

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