Treffpunkt In Rita Knüppels Kiosk in Hamburg-Altona schlägt das Herz eines ganzen Quartiers. Er hat 364 Tage im Jahr geöffnet und bietet alles, was es zum Leben braucht – vor allem eine freundliche Zuwendung: Man kennt sich, man sieht sich
von Gernot Knödler
In Rita Knüppels Kiosk in der Virchowstraße in Hamburg-Altona schlägt das Herz des Viertels im Rhythmus der Türklingel. Das Nahversorgungszentrum ist gerade mal so klein wie anderer Leute Wohnzimmer. Es hat 364 Tage im Jahr geöffnet und ist vollgestopft mit allem, was es zum Leben braucht: Haarspray und Hundefutter, Zahncreme und Zigaretten, Bier und Brötchen. Geburt und Tod, Freud und Leid – alle Wechselfälle des Lebens spielen sich auch in dem Lädchen ab.
„Ding, dang, dong“ – eine füllige Frau mit blondierten Haaren platzt in den Verkaufsraum im Souterrain. „Ein Rubbellos wie immer“, sagt sie mit krächzender Stimme. Gabi Claußen kommt fünfmal am Tag in den Kiosk. Sie hustet kräftig und raucht so viel, dass sie Rita den Tabak grundsätzlich anschreiben lässt.
129,75 Euro hat sie auf dem Zettel. „Das geht ja noch“, findet sie. Claußen holt hier Milch und Eier, Zeitungen für ihren Untermieter und Red Bull für ihren Sohn. Der Untermieter bezieht auch seine regelmäßig fällige Kiste Bier über Ritas Laden.
Seit 32 Jahren führt Rita Knüppel das kleine Geschäft. Die schlanke Frau hat strohblondes Haar und ein gebräuntes Gesicht mit Fältchen um Mund und Augen. Viele Kunden duzen sie. Ihr verstorbener Mann war Kunde in dem Kiosk und als die Vorgänger aufgaben, übernahm das Ehepaar Knüppel den Laden.
Das Betriebswirtschaftliche war kein Problem. Beide hatten eine kaufmännische Ausbildung. Sie begannen mit Zeitungen, Tabak und Lotto. Als dann die „Milchläden“, wie Rita Knüppel sie nennt, in der Umgebung zumachten, nutzten die Knüppels die Chance. Sie schafften eine Kühltheke an, einen Gar- und zwei Backöfen, die man sieht, wenn man an der Theke vorbei ins Hinterzimmer blickt.
„Wir waren in Hamburg die ersten, die selbstständig Brötchen gebacken haben“, erzählt Rita. Natürlich backten sie Teiglinge auf, räumt sie ein, aber professioneller als andere. „Wir veredeln die Brötchen“, sagt sie. Sie werden gegart, um das Volumen zu vergrößern, aufgemotzt mit Mohn und Sesam und dann gebacken. Ritas Franzbrötchen sind vom Feinsten.
Viele Jahre hat sie in einer Konditorei gearbeitet. Auf Bestellung backt sie auch mal eine Geburtstagstorte. Von ihrem Qualitätsanspruch möchte sie nicht abrücken, auch wenn es manche Kunden gebe, die alles für ’nen Appel und ’n Ei haben wollten. „Wir haben Spitzenbackwaren, die kann ich nicht für 50 Cent verkaufen“, sagt Knüppel.
Ihr Qualitätsanspruch ist auch im Umgang mit der Kundschaft hoch. Bedient wird zack, zack. Zum Brötchen gibt es einen Teller und die Wünsche werden möglichst antizipiert. „Morgen Herr Timm!“ – Ein untersetzter Mann mit Glatze ist die Stufen zum Souterrain herabgestiegen. Er reicht Rita einen Weidenkorb, den sie kommentarlos mit Bierflaschen füllt. Er bestellt noch Weltmeisterbrötchen und Erdbeermarmelade. Keine mehr da. „Wir stehen kurz vor der Inventur“, sagt Rita. „Da halten wir schön den Ball flach.“
Die Kunden wissen, dass sie zwar einen Laden, in dem es fast alles gibt, aber keinen Supermarkt vor sich haben. Knüppel hat zwar vier Lieferanten, den ganzen Kleinkram kauft sie jedoch alle paar Tage selbst ein, einschließlich der Bestellungen, die ihr manche Anwohner mit auf den Weg geben. Früher hat sie sogar die Leute zu Hause beliefert. Aber das macht jetzt Rewe.
Das liegt auch daran, dass sich das Viertel verändert hat. Viele alte Bewohner sind gestorben, junge nachgezogen. Nur 13 Prozent sind 65 und älter, das Gros mit knapp 40 Prozent ist zwischen 30 und 50 Jahre alt. Entsprechend weniger Leute decken ihren Grundbedarf an Nahrungsmitteln im Kiosk. Eher kaufen sie – neben Brötchen, Tabak, Tippscheinen und Zeitschriften – das, was eben gerade fehlt. So wie der junge Mann in Jogginghose: Margarine, Lavazza-Espresso und Brötchen.
Die Jogginghose ist ein verbreitetes Kleidungsstück unter den Kunden, bisweilen ergänzt um Adiletten. Für viele ist der Laden eine Art erweitertes Wohnzimmer und entsprechend familiär ist der Umgangston. „So, Häschen, was kriegste denn?“, fragt Nathalie Fröhlig eine junge Frau mit Schlappen im gepolsterten Mantel. Fröhlig mit ihrem blonden Pony gehört neben einer weiteren Angestellten und vier Aushilfen zu Knüppels Team.
Mit „Hallo Lady“ begrüßt sie eine blasse Studentin, die ein tätowiertes Kreuz auf ihrem Daumen hat. „Vorsatz ist auch schon hin“, sagt die und ordert Zigaretten. „Ich kann jetzt nicht mit dem Rauchen aufhören, ich muss ’ne Hausarbeit fertig machen.“ Fröhlig tröstet sie damit, dass sie nie aufhören werde zu rauchen: „Kein Kaffee ohne Zigarette!“
Das Familiäre ist es, was Fröhlig bei der Stange gehalten hat. Nachdem sie eigentlich als Zwischenlösung im Laden angefangen hatte, und was es ihrer Chefin ermöglicht, bis zu 14 Stunden für den Kiosk da zu sein. „Ich könnte nicht bei Edeka sechs Stunden an der Kasse sitzen“, sagt Fröhlig. Stattdessen steht sie im Laden, genau in der Zeit, in der ihr Sohn zur Schule geht – eine ideale Lösung.
Die Schule liegt um die Ecke. Die Kinder versorgen sich im Kiosk mit süßen Kleinigkeiten. Andere werden von den Eltern zum Einkaufen geschickt. Und wieder andere kommen in den Kiosk, wenn sie sich fürchten, etwa weil ihnen jemand nachstellt.
„Das Beste ist, wenn Leute mit Problemen ankommen“, sagt Fröhlig. „Zum Beispiel wenn Frau Meier was über Frau Müller wissen will, weil beide nicht mehr miteinander sprechen.“ Oder wenn sich der eine über den anderen auskotzt. „Die kennen einen – auch mit seinen Macken“, sagt Hans-Christian Dany, der hier Zigaretten, Zeitungen und Brötchen holt. Natürlich ist das keine Einbahnstraße. „Die wissen auch was von mir“, sagt Fröhlig. „Die kennen uns, wir kennen die.“
Routiniert räumt sie nebenbei einen leeren Brötchenständer in der Kühlvitrine ab, stellt den verbleibenden schräg – und schon sieht’s wieder schick aus. Trotz des mitunter straffen Betriebs bleibt Zeit, auch mal zuzuhören – und sogar jemanden in den Arm zu nehmen. „Das ist eben der Charme unseres Ladens“, findet Rita Knüppel.
Zwei Maler in weißer Kleidung werden mit Kaffee und Käsebrötchen versorgt. Bei vielen Kunden braucht Fröhlig keine Worte: Kaum ist die Tür aufgegangen, steht ein Pappbecher im Kaffeeautomaten. Probleme mit Kunden gebe es nie, sagt sie – auch nicht mit denen von der Obdachlosentagesstätte um die Ecke. „Die sind supernett“, sagt Fröhlig.
Zwei, drei Kunden seien vielleicht ein bisschen anspruchsvoll. „Die einfachen Kunden sehen, dass du allein im Laden bist“, sagt Fröhlig. „Den Schwierigen ist das egal.“ Aber die Leute akzeptieren es, wenn sie jemanden vorzieht, der es eilig hat, weil er oder sie zur Arbeit muss. Im Kiosk lässt man einander den Vortritt. „Es ist sehr menschlich“, findet Dany.
Dazu gehört als Kehrseite, dass Rita Knüppel schon drei Überfälle erlebt hat, „auch mit Messer und so“. Sie nimmt es nicht tragisch, hat sich aber einen Hund angeschafft. Der Terrier Meilo versperrt gern den Durchgang zum Hinterzimmer. Er sieht ganz freundlich aus, reicht Frau Knüppel aber bis zur Hüfte und verfügt damit über Drohpotenzial.
Der Kiosk ist zwar nicht rund um die Uhr geöffnet – von sechs bis 19 Uhr an Werktagen – aber der einzige Tag, an dem der Kiosk geschlossen hat, ist Neujahr. Fröhlig findet das nicht schlimm. „Wir teilen uns das“, sagt sie. Und die Sonntage mag sie am liebsten. Es ist ordentlich was los, aber alle sind entspannt.
Die Maler wollen jetzt zahlen. Einer nimmt noch mal eben eine blaue Spülbürste mit. „Brauchst Du dafür ’ne Quittung?“, fragt Fröhlig. „Nö.“ Hauptsache er hat das Ding. Warum sich später darüber ärgern, dass man es im Supermarkt vergessen hat, wenn man es auch bei Knüppel kriegt.
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