: Weltsekunden des Dilettantismus
VON WEISEN UND TOREN Hinter vielen Künstlern aus Berlin steht sein Verlag: Martin Schmitz entdeckte im Kreuzberg der 80er-Jahre, was er seit 20 Jahren mit schönen Büchern fördert. Ausstellung im Nachbarschaftszentrum RuDi
VON DORIS AKRAP
„Doris ist mitten unter uns“, schrieb Klaus Laufer 1982 in dem Merve-Bändchen „Geniale Dilletanten“ (sic). Wolfgang Müller hatte das Büchlein nach der Veranstaltung „Die große Untergangsshow – Festival Genialer Dilletanten“ herausgegeben und das l zu viel und das t zu wenig waren Programm. Im Gegensatz zum Profi, erklärte Müller, stünden alle hier versammelten Künstler – darunter die Musikband und Kunstgruppe Die tödliche Doris, der Müller angehörte, die Einstürzenden Neubauten und der spätere DJ Motte – zu ihren Fehlern. Die bestünden auch darin, alle möglichen und vermeintlich unmöglichen Bereiche in ihre Kunst zu integrieren, mit dem Ziel, einen universalen Ausdruck zu finden.
„Doris stand bei mir immer irgendwie im Zentrum“, erzählt der Verleger Martin Schmitz in seiner Wohnung, die direkt auf der Grenze zwischen Mitte und Kreuzberg liegt. Schmitz, der die Werke der tödlichen Doris in vier Bänden herausgegeben hat, feiert in diesen Tagen das 20-jährige Jubiläum seines kleinen Verlags. So wie Die tödliche Doris Musik und Filme machte, fotografierte und dichtete, versammelt auch das Programm von Schmitz’ Verlag Autoren, vornehmlich aus dem Kreuzberg der 80er-Jahre, die die Bedeutung von Architektur, Musik, Design, Film oder Kunst über die Grenzen ihres Genres hinaus entfalten und miteinander verbinden.
Warnung vor Expertentum
Neben Wolfgang Müllers Projekten sind dies beispielsweise die Bücher des Filmemachers und Autors Heinz Emigholz, der Künstlerin Françoise Cactus oder die Texte der Schriftsteller Jörg Schröder und Barbara Kalender. „Erlaubt ist alles, was sich nicht als Expertentum versteht“, erläutert Schmitz. „Fachleute zerstören die Welt und produzieren nur neue Fachleute, die Schadensbegrenzung betreiben.“
Schmitz hatte in den 80er-Jahren in Kreuzberg das gefunden, was er während seines Studiums der Architektur in Kassel bei seinem Professor entdeckt hatte: eine Haltung zu Wahrnehmung und Wirklichkeit, die ein anderes Verständnis von Landschaft und Raum ermöglichte. Der Soziologe und Urbanismuskritiker Lucius Burckhardt hatte in Kassel eine neue Wissenschaft, die Spaziergangswissenschaft, zur akademischen Disziplin gemacht. Die moderne Stadt- und Landschaftsplanung sollte nicht nur nach ökonomischen und politischen Interessen gemacht werden, sondern andere Wege städtischer Planung eröffnen, die nicht bei Verkehrsberuhigung und Garagendachbepflanzung enden sollten. Nach dem Tod Burckhardts verlegte Schmitz dessen Schriften zur Promenadologie.
Das Curry-Diplom
Bei Burckhardt hatte Schmitz auch seine 1982 als Buch erschienene Diplomarbeit „Currywurst mit Fritten. Von der Kultur der Imbissbude“ geschrieben. Die historische Entwicklung des ambulanten Essens beschreibt er darin als genuine Erfindung der ersten Arbeiter, die in die Städte kamen. Seiner Leidenschaft für den Imbiss erlag Schmitz 1989, als er zurück nach Kassel ging: In einer ehemaligen Trinkerhalle gründete er Galerie und Verlag.
Die Galerie schloss Schmitz 1999 wieder, mit einem Fest, auf dem 100 Kästen Bier getrunken wurden. Die behutsame Sanierung einer Trinkerhalle sozusagen. Seinen Verlag betreibt er weiter und auch die Idee des Dilettantismus. Seit Jahren hält er Vorträge über die „Weltsekunden des Dilettantismus“. Diese sind für Schmitz aber nicht nur die Kreuzberger Avantgardekünstler der 80er-Jahre. Eine dieser Weltsekunden sei die Stelle im Korintherbrief, in der Paulus den Zweiflern erläutert, dass die Weisen die eigentlichen Toren sind, weil sie mit ihrem irdischen Geist seine Worte nicht verstehen könnten. Und ein Tor ist, wer glaubt, dass die Geschichte des Dilettantismus mit dem Mauerfall zu Ende war.
Schmitz, 1987 Kurator des Filmprogramms der documenta VIII, stellte dort 1992 ein Kissen der Künstlerin Annemarie Burckhardt aus: Das war in Buchform genäht, in Kreuzstich mit „documenta IX“ bestickt. Die documenta-Leitung wollte das Kissen verbieten und strengte einen Prozess an. Doch das Verbot konnten sie nicht durchsetzen, „documenta“ war damals noch kein geschützter Name. Für das documenta-Kissen werden von internationalen Museen mittlerweile Preise gezahlt, die weit über den Preisen für die documenta-Kataloge liegen.
Ab Samstag wird der 20. Geburtstag gefeiert, mit einer Ausstellung im Friedrichshainer Nachbarschaftszentrum RuDi: Mit dabei das documenta-Kissen, die Häkelpuppe Wollita von Françoise Cactus, Fotos von ausgesuchten Pommesbuden, eine Sammlung mit Waren, die den Namen Profi oder Professional tragen, Filme der tödlichen Doris und Schmitz’ eigener Beitrag zum internationalen Architekturwettbewerb „Die behutsame Verstädterung der Berliner Mauer“ von 1987.
■ Samstag, 20 Uhr, eröffnet die Ausstellung im RuDi, Modersohnstr. 55. Bis 18. Dezember
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