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„Die Kinder setzten sich in den Unterkiefer“

Schlitten Schon die Ägypter transportierten mit ihnen Lasten. Während der Bronzezeit nutzten Europas Kinder dann schlittenähnliche Konstruktionen, um über das Eis zu fahren. Und im Barock prahlte der Adel mit Prunkmodellen

Hat eine lange Geschichte: der Schlitten, hier der des Weihnachtsmanns auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt Foto: Bodo Marks/dpa

Interview Jördis Früchtenicht

taz: Herr Lerch, seit wann nutzt der Mensch den Schlitten zum Vergnügen?

Wolfgang Lerch: Schleifen und Schlitten kennen wir seit der Bronzezeit. Es waren Gerätschaften zur Bewältigung des alltäglichen Lebens. Kinder nutzten ihrerseits bei Schnee und Eis jedes zur Verfügung stehende Mittel, um sich zu vergnügen. Die ältesten Funde in Richtung Schlitten und Schlittschuh sind Kufen aus Knochen. In den hügelfreien Regionen der Niederlande und Norddeutschlands setzten sich die Kinder in den Unterkiefer von Pferden und stakten mit kleinen Stäben über die Eisflächen. Die Grafik und die Bilder der alten niederländischen Meister zeigen viele solcher Szenen.

Worin besteht der Unterschied zwischen Schleifen und Schlitten?

Schlitten sind mit Kufen ausgestattete Vehikel. Schleifen können einfache Unterlagen zum Transport von Gegenständen sein, also Astgabeln, Felle oder Ähnliches. Der Travois der Indianer, bestehend aus zwei Baumstämmen, ist eine typische Form. Schleifen finden sich auf allen Kontinenten.

Wann gab es die ersten Schlitten überhaupt?

Schlitten und Schleife waren schon lange Zeit vor der Erfindung des Rades im Gebrauch. Es waren Vehikel zur Bewältigung des täglichen Lebens, dies vor allem in den schneereichen Zonen der Gebirge und im subarktischen Raum. Im alten Ägypten vor 5.000 Jahren wurden Schlitten allerdings auch beim Bau der Pyramiden eingesetzt. Die erhaltenen Reliefs in den Grabkammern der Ägypter erzählen davon. Auf allen Kontinenten finden sich Belege dafür, dass Schlitten zum Transport großer, schwerer Lasten genutzt wurden. Selbst für den Transport der großen Menhire von Stonehenge wird das vermutet. Die Indianer Nordamerikas nutzten Schleifen, Vorläufer der heutigen Toboggans, um ihren Hausrat bei den großen Wanderungen zu transportieren.

Und wann entwickelten sich Schlitten vom Transportmittel zum Freizeitvergnügen?

Der Schlitten als Transportmittel ist die Urform. Universell wurde der Schlitten dann erstmals in der Zwischeneiszeit von 1500 bis etwa 1850 genutzt. Alle Bevölkerungsschichten nahmen per Schlitten am öffentlichen Leben teil. Händler, auch Gaukler und andere Schausteller zogen mit Schlitten über die Märkte und Messen. Elegante Damen ließen sich von ihren Kavalieren in Stuhlschlitten über das Eis schieben. In der Renaissance und im Barock wurde der Schlitten dann Prestigeobjekt für Adel und gut situiertes Bürgertum. In den Wintermonaten wurden dem staunenden Volk wahrhafte Prunkschlitten präsentiert.

Wann entstand der Schlitten, wie ihn heute Kinder verwenden?

Mit einer Jahreszahl und einer regionalen Zuordnung ist dies nicht zu beantworten. Die ersten Kinderschlitten waren einfache Holzbretter mit Kufen. Sie wurden etwa Käsehütsche, Peekschlitten oder Stachelschlitten genannt. Je nach Region hatten sie unterschiedliche Namen.

Was wurde mit Schlitten transportiert?

Wolfgang Lerch

79, Mitgründer des Museums Schlittenscheune, zeigte 2008 in Oberhof die Schau „5.000 Jahre Kulturgeschichte des Schlittens“.

In den Alpen, den europäischen Mittelgebirgen, speziell auch im Riesengebirge und den Vogesen wurden Hörnerschlitten eingesetzt, um Holz aus den Höhenlagen in die Täler zu den Hüttenwerken und in die Städte zu transportieren. Diese Schlitten mussten einerseits robust sein, andererseits eine gewisse Leichtigkeit haben. Denn Schlitteure trugen sie für den jeweiligen Einsatz auf ihren Schultern auf den Berg. In allen schneereichen Gebieten waren die Schlitten tatsächlich Alltagsgefährte, ohne sie war kein Leben möglich. Sie transportierten alles, von Lebensmitteln über Brennmaterial bis zu Viehfutter und Post. Aber auch Kranke, Schwangere und die Großmutter wurden zum Beispiel zum sonntäglichen Kirchgang transportiert. Mit beginnender Motorisierung verlor der Schlitten allerdings an Bedeutung.

Für die Freizeit blieb er aber weiterhin wichtig?

Städte und Industrie wachsen in rasantem Tempo und mit ihnen auch der Tourismus. Das Bedürfnis, die knappe Freizeit sinnvoll zu nutzen, treibt die Städter auch im Winter in die Gebirge. Staunend erleben sie dort die zu Tal rasenden Schlitten und möchten dieses Tempo selbst auskosten. Schnell werden nun aus den Hörnerschlitten rein touristische Freizeitgeräte.

Und wann entwickelte sich der Schlitten zum professionellen Sportgerät?

Die Anfänge des rein sportlichen Schlittenfahrens liegen in der Schweiz. In Davos und St. Moritz entstehen die ersten Rennbahnen. Vor allem britische Wintergäste modifizieren die bekannten Schlittenformen zu Lenkrodel und Bob. Das anfängliche lustbetonte Rodeln wurde schnell zu professionellen Wettkämpfen stilisiert. Es waren die Anfänge des heute noch weltweit praktizierten „Rodel- und Bobzirkus“ mit Weltcups und Weltmeisterschaften. Auch das reisende Bildungsbürgertum aus den deutschen Mittelgebirgen entdeckte in der Schweiz den Schlitten als Sportgerät. Um 1900 kam diese Sportart auch nach Thüringen, nach Friedrichrode, Ilmenau und Oberhof. 1906 begründete Curt Weidhaas aus Oberhof den Thüringer Wintersportverband. Schon bei den ersten Wintersportfesten waren Bobsleight- und Schlittenrennen fester Bestandteil des Wettbewerbsprogramms. Im Museum Schlittenscheune in Ilmenau ist diese Entwicklung mit historischen Objekten festgehalten. Thüringen stellt bis heute die meisten deutschen Medaillengewinner in diesen Wintersportdisziplinen.

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