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Vom Verlust der Zweitwohnung

THEATER In seinem Stück „Die Wehleider“ beleuchtet Christoph Marthaler am Hamburger Schauspielhaus die Befindlichkeit der Wohlstandsbürger in Zeiten der Einwanderung. Herausgekommen ist platte Unterhaltung

Marc Bodnar in einer Szene aus Christoph Marthalers Stück „Die Wehleider“ Foto: Kerstin Schomburg

von Klaus Irler

Eine Gruppe von 14 Menschen betritt eine Turnhalle. Die Leute sind in Decken gewickelt, wie Gerettete nach einer Katastrophe, und erkunden die Halle ängstlich. Auf dem Boden liegen Matratzen, für jeden eine. Die Fensterscheiben sind zerbrochen und die Wände wurden lange nicht gestrichen. Dies hier ist keine Flüchtlingsunterkunft, sondern eine Privatklinik für Angst und Depression. Die Menschen, die hier herkommen, sind keine Flüchtlinge, sondern Wohlstandsbürger. Der Spieß ist umgedreht: Diejenigen, die einst Hilfe gewähren sollten, sind nun selbst hilfebedürftig.

Ausgedacht hat sich diese Konstellation der Regisseur Christoph Marthaler für sein Stück „Die Wehleider“, das am Freitag am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt wurde. Angelehnt ist das Stück an die „Sommergäste“ von Maxim Gorki, die in Marthalers Stück allerdings nur wenige Spuren hinterlassen haben.

Die 14 Leute auf der Bühne sind alle nicht mehr jung und tragen Kleider wie auf einer Bad-Taste-Party: ein gelungener Stilmix aus 50ern, 70ern und 80ern. Mit Gorkis Sommergästen verbindet sie die Angst vor dem Verlust ihrer bürgerlichen Welt mitsamt den Privilegien. Gorkis Sommergäste treffen sich am Vorabend der Russischen Revolution von 1905. Marthalers Wehleider treffen sich in der Gegenwart und machen dann einen Sprung in die Zukunft: Am Ende blicken sie zurück auf einen Krieg Europas gegen die Migranten, datiert auf die Zeit um das Jahr 2020.

Aber Krieg und Niedergang prägen nicht die Tonlage des Abends, vielmehr geht es Marthaler um Komik, Satire und Klamauk. Mal bricht aus einer Wehleiderin ein Wortschwall zum Thema Ernährung hervor, zu der Frage also, was sie wann isst und wie ihr Darm damit klarkommt. Mal betritt ein Wehleider mit Donald-Trump-Toupet die Bühne und versucht jenen Mann zu parodieren, der auch in der Wirklichkeit schon wie eine Parodie daherkommt.

Mal jammern die Wehleider über den Verlust von Zweitwohnung und Physiotherapeut. Mal rezitieren sie Ressentiments gegen Flüchtlinge im Stil von „meine Immobilie verliert an Wert, wenn die nebenan einziehen“. Dabei reden sie immer schneller und schneller, bis am Schluss nichts mehr übrig bleibt als eine aggressive Kakofonie.

Feuerwerk der Phrasen

Strukturiert ist das Stück wie eine Nummernrevue, eine Geschichte wird nicht erzählt. Von Gorkis „Sommergästen“ entlehnt ist das gorkische Gelaber: Mitunter reden alle wirr durcheinander und wollen dabei schlau klingen. Es ist ein Feuerwerk der Phrasen, das sehr ermüdend ist und zeigen soll, wie egozentrisch, inhaltsleer und richtungslos diese Leute geworden sind.

Aber was Marthaler interessiert, ist nicht die Sprache, sondern sein Stilmittel der musikalischen Intervention. Für dieses Stilmittel ist er berühmt, und bei den „Wehleidern“ reizt er es so weit aus, dass das Stück phasenweise mehr wie ein inszeniertes Konzert als wie ein musikalisch durchsetztes Theaterstück wirkt. Die Wehleider singen auf dem Bauch liegend, im Raum verteilt, als Chor angeordnet. Sie singen mehrstimmig, viel Klassik, viel Sakrales, aber auch Volkslieder, Schlager und Pop, oft mit Klavierbegleitung. Die Bandbreite reicht von Bach bis Modern Talking. Es ist nicht immer klar, in welchem Zusammenhang die Stücke zur Handlung stehen. Dafür singen die Wehleider auf hohem Niveau. Das Ensemble, bei dem wieder viele von Marthalers Stammschauspielern dabei sind, ist auch ein verdammt gutes Vokalensemble. Das beißt sich mit der These einer untergehenden Gesellschaftsschicht: Wer so singen kann, ist nicht am Ende.

Den Wehleidern gegenüber stehen die Pfleger der Klinik, und das sind natürlich drei junge Männer mit Migrationshintergrund. Textlich tragen sie nichts bei, ihr Job ist das Tanzen, zum Beispiel in einer absurden Choreografie mit den alten Wehleidern. Der junge kräftige Migrant trifft den senilen Wohlstandsbürger: Marthaler leistet sich viele Plattitüden dieser Art, überzeichnet sie und sagt damit nichts.

Im Lauf des Abends werden aus den migrantischen Pflegern gepflegte Anzugträger, in finsteren Monologen erzählen drei Wehleider vor einem Tribunal von ihrem Versagen bei der Flüchtlingspolitik, von geschlossenen Außengrenzen und unzähligen toten Flüchtlingen um das Jahr 2020 herum. Marthaler unternimmt auf den letzten Metern den Versuch, dem Stück noch etwas Ernsthaftigkeit zu verleihen. Aber die wirkt wie schlechte Schminke und kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie seicht die zwei Stunden davor waren.

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