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Experiment Rafael Jové sitzt in Berlin auf einer Brücke und schreibt, was die Vorbeigehenden ihm diktieren: Einkaufszettel, Liebesbriefe, Geständnisse. Einzig einen Durchschlag von allem Diktierten behält er für sichDer Mann mit der Olympia

Er ist bereit, die Gedanken der anderen aufzuschreiben: Rafael Jové auf der Kottbusser Brücke

Von Luciana Ferrando (Text) und André Wunstorf (Fotos)

Ein Mann diktiert seinen letzten Willen: Er vermacht seinem Sohn eine Balalaika, eine Ziehharmonika und andere Instrumente in der Hoffnung, dass er, sein Sohn, „in erster Linie den Seelen der Menschen dienen wird und nicht dem Geld“.

Eine junge Frau bedankt sich bei ihrer in München lebenden Mutter für die Sicherheit, die sie ihr immer gab.

Und ein Vierzigjähriger diktiert einen Liebesbrief für die fremde Frau, die neben ihm auf der Brücke steht: „Deine blauen Augen sind mir sehr aufgefallen. Sie sind schön. Auch dein Fahrrad ist schön (aber natürlich nichts im Vergleich zu den Augen).“ Sonst habe er niemanden, an den er Liebesbriefe schreiben könne. Zurückhaltender antwortet sie: „Herzliche Grüße schicke ich dir, dank dieses netten Herrn an der Schreibmaschine“.

Mit Schiebermütze, Brille und Schreibmaschine

An einem Schreibtisch auf der Kottbusser Brücke in Berlin sitzt Rafael Jové und schreibt mit einer Olympia aus den 60er Jahren alles, was die Passanten ihm diktieren. „Müssen Sie schnell einen spontanen Gedanken festhalten? Brauchen Sie einen Einkaufszettel? Möchten Sie sich beschweren oder Ihr Leben bejubeln? Ich schreibe das für Sie auf. Gratis!“, wirbt der 39-Jährige auf einem Schild.

Nach ersten neugierigen Blicken und Fragen – Was? Wofür? – lassen sich die meisten darauf ein, trauen sich, Wörter und Sätze zu finden, die sofort auf Papier niedergeschrieben werden können – und zwar analog.

Manche lassen nur Stichwörter fallen („Irgendwas mit Herbst“). Andere diktieren oder improvisieren Texte. Einige lassen sich Kalendersprüche, die sie vom Handy ablesen, aufschreiben. Ein Fahrradhändler beantwortet eine polizeiliche Anzeige. Jemand gesteht: „Ich bin nicht vorbereitet, um mit dir zu wohnen, aber ich liebe dich.“ Ein Obdachloser vertraut ihm das Heft an, in dem er die kaputte Beziehung zu seiner Mutter aufgearbeitet hat. „Schreib mir das alles ab“, fordert er. Jové sagt immer ja.

Die Wörter der anderen sind das Kunstwerk

Eine mit Durchschlagpapier gefertigte Kopie des Geschriebenen ist der Preis für seine Arbeit. Die fremden Worte möchte der gelernte Radiotechniker und Medienkunstabsolvent in Kunst verwandeln – ob Buch, Ausstellung oder Audiocollage ist noch nicht klar. Ein Stipendium der Akademie der Künste erlaubt ihm, bis Frühling 2017 das passende Format zu finden und ein Werk zu kreieren.

Bis dahin lernt der Hamburger nun Berlin und die Berliner besser kennen und schreibt für sie alles auf, sofern das Wetter mitmacht. Denn in Handschuhen Schreibmaschine zu schreiben sei, sagt er, nicht immer ein Vergnügen.

Begegnungen sind ein wesentlicher Teil der Erfahrung geworden. In Weimar, wo Jové mit Freundin, Sohn und Tochter wohnt, seien die Menschen nicht so experimentierfreudig. Was für einen Wert das geschriebene Wort noch hat, glaubt er, dort weniger als in Berlin erfahren zu können.

Habe nur bei dir und 1 weiteren (7 Euro) Schulden gemacht, sonst nichts. Wegen 5 Euro bist du den ganzen Monat verarmt durch mich? Lächerlich!!!“

Ist das also eine Performance?

„Die Grenzen zwischen Kunstaktion und Realität waren von Anfang an verwischt“, sagt Jové. Es fing als Schnapsidee an. Er hatte das Stipendium, aber noch kein Projekt. „Wenn mir nichts einfällt, setze ich mich draußen hin und schreibe alles auf“, sagte er zu seiner Freundin aus Spaß. „Oh, das ist es!“ Die Idee wurde immer konkreter, er probierte aus, sie umzusetzen.

Schon am ersten Tag war das Feedback grandios. Es war Sommer, auf der Brücke war viel los. Am Ende hatte er von Gerichtsverfahren über Geburtstagsgrüße bis hin zu einem veganen Manifest allerlei Geschichten in seiner Mappe. Bis jetzt ist seine Sammlung auf über hundert Seiten angewachsen, jedes Blatt nummeriert und datiert.

Alleine auf einer Brücke / als origineller Kauz / mit antiquiertem Klapperzeug. / Brauchen die das hier? Noch einer, der etwas tut, was keiner vor ihm getan haben soll.“

Mit der Schreibmaschine auf einer Brücke in Berlin zu sitzen und für andere zu schreiben sei Inszenierung, aber „trotzdem bin ich hundert Prozent für die Menschen da, die mich brauchen“. Er nennt sie „Kunden“, denn auch ohne Geld gehe es um Austausch; Wörter auf der Maschine anzuschlagen sei eine Arbeit. Viele wollen etwas zurückgeben: warme Getränke, selbst gemachtes Essen, Jobangebote. (Ob er in einem Konzert mitwirken wolle? Ob er sich vorstellen könne, als Ghostwriter zu arbeiten?)

„Zu verkaufen:

Mercedes Benz

1,6 l Motor, Baujahr 2002

Klimaanlage, Servo?“

In Ländern Asiens oder Lateinamerikas gehören die Schreibmaschinen-Straßenstuben zum Alltag. Amtsangelegenheiten, Gedichte und Liebeserklärungen werden für die geschrieben, die nicht schreiben können. Viele Passanten auf der Brücke berichten, dass sie auf Reisen in ferne Länder Schreibmaschinenschreiber auf Straßen sahen.

In Berlin jedoch geht es um Erinnerungen, um Sehnsucht: ein richtiger Brief – und wie es war, darauf zu warten. Es geht um Nostalgie: die alte mechanische Schreibmaschine. Und es geht um Kopfbilder von Stenografinnen und böhmischen Schriftstellern.

„Mutter, sie versteckte ihre Gedanken im Schlafrock und ging sterben. Der Ereignishorizont wusch alle Sterne vom Himmel und reflektierte das Wort zum Sonntag.“

Was ist das?, fragt ein achtjähriges Mädchen. „Es ist wie ein Computer und ein Drucker in einem, ohne Strom“, erklärt Jové.

Für ihn ist eine Schreibmaschine die einzige Maschine, mit der er eine emotionale Verbindung aufbauen konnte. „Vielleicht wegen der Kraftentladung, des klappernden Lärms, der Schrifttype, der Bewegung.“

Ein Spanier, der zu Besuch in Berlin ist, sagt, der Rhythmus sei der Schlüssel: „Die Maschine und dein Körper synchronisieren sich.“ Er lässt sich einen einzigen Satz schreiben auf Deutsch und Spanisch: „Es gibt immer zwei Möglichkeiten. Siempre hay dos posibilidades“, und lacht, als er den Pleonasmus bemerkt. „Ahhh …“, sagt nur noch das Mädchen.

„Du bist schön. Schön bist du. Bist du schön! Du Schöne!“

Es ist Hype, und es ist Nostalgie

Seine Olympia, sein Werkzeug

Ein Nostalgiker sei Rafael Jové nicht. Als „Analogtyp“ bezeichnet er sich. Abgesehen von der Schreibmaschine besitzt er um die 5.000 Schallplatten. In den 90ern fing er mit der Sammlung an, er habe selbst seine ersten CDs verkauft, um sich mehr Platten anzuschaffen. Vom Auflegen hat er einige Jahre gelebt. Analoge Technik ist gerade wieder angesagt in Hipsterkreisen. „Ich kann jetzt nicht alles wegwerfen, nur weil es gerade ein Hype ist“, sagt er – weder die Schallplatten noch die Schreibmaschine. „Ich hatte sie immer schon dabei.“ Die Olympia, die seine Mutter als Sekretärin benutzte, bevor sie Kinder bekam, „stand meine ganze Kindheit so rum“, bis sie seine eigene wurde. Zwei zusätzliche Schreibmaschinen bekam er aus Barcelona, seine Tanten wollten sie in den Müll werfen.

„Jan und Nils stinken nach Scheiße!“

Als Werkzeug, nicht als Kultobjekt benutze er die Schreibmaschine immer noch oft, sagt er. Um ein autobiografisches Stück zu schreiben, um die Frustrationen des Tages loszuwerden. Mit einem Computer schrieb er seine Masterarbeit in Medienkunst. Auf einem zweiten Schreibtisch beobachtete er sich selbst und schrieb mit der Olympia das persönliche Tagebuch eines Mannes, der schreibt.

To do List:

Rahmenlehrplan Musik und Ethik durcharbeiten

Neuen Orthopädie Termin machen

Nicht vergessen am Dienstagabend in den Urlaub zu fahren“

„Briefe an Gott?“, fragt eine Frau und zeigt auf die Schreibmaschine, dann geht sie weiter. Einen solchen Brief traue sie sich nicht zu schreiben. Ein Mann in Mantel bleibt mit Lidl-Tüten stehen und schreit, er sollte lieber seinen Laptop mitbringen.

Rafael Jové glaubt, die Begegnungen würden sich mit einem Computer nicht ergeben, auch nicht, wenn er von Hand schreiben würde. Die Schreibmaschine sei die Protagonistin, ohne sie würden alle an ihm vorbeigehen. „Ich wäre noch einer, der etwas tut, ich wäre unsichtbar.“

„Richte bitte viele Grüße an deine Underwood, deine Olivetti und alle deine Schreibmaschinen aus. Es ist schön, mal an die Luft zu kommen.

Deine Olympia von der Kottbusser Brücke.“

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