: Ganz schön extrem
Heavy Metal ist in Berlin eine ganze Menge mehr als nur was mit langen Haaren
von Jens Uthoff
Wenn von der Berliner Musikszene die Rede ist, geht es sehr oft um Clubkultur oder es wird die Frage erörtert, ob das Berghain nicht mehr oder schon wieder der coolste Schuppen der Welt ist. Auch Subkulturen wie Punk und HipHop haben in der Stadt eine einschlägige Geschichte, allein schon deshalb wird geschaut, was im SO36 vor sich geht und die Sidos dieser Welt so treiben. Ein Genre allerdings scheint auf der Berliner Musiklandschaftskarte überhaupt nicht vorgesehen zu sein: Metal.
Dass das aber ein großer Irrtum ist und nur mangelnder Öffentlichkeit zuzuschreiben, wird ziemlich schnell klar, wenn man sich ein bisschen in der Szene umsieht. Zum einen gab es allein im vergangenen halben Jahr eine Reihe interessanter Berliner Veröffentlichungen – man denke an die neuen Alben von der Thrash-Metal-Band Space Chaser und den Post-Black-Metal-Emporkömmlingen Sun Worship und Ånd. Ohnehin ist die Szene lebendig: Beim Blick in die Online-Datenbank Encyclopaedia Metallum, so etwas wie die Gelben Seiten für Metal-Bands, findet man 197 Berliner Musikgruppen, die sich metallischen Klängen verschrieben haben.
Zum anderen hat man mit den Clubs Urban Spree, Tiefgrund und Cassiopeia oder auch dem CTM-Festival, das seit einigen Jahren Gefallen am experimentellen Metal gefunden hat, Orte und Institutionen in der Stadt, die neben den üblichen Berliner Konzertbühnen dem Genre und seinen aktuellen Erscheinungsformen immer häufiger eine Plattform geben. Auch jede Menge Kneipen für Metaller – das Rockcafé Halford, das Blackland, das Brutz & Brakel – sind über die Stadt und vor allem im offenbar metalaffinen Friedrichshain verstreut.
So viel Verschiedenes
Jan Korbach, Gitarrist der vor zwei Jahren gegründeten Metal-Band Ånd (und nebenbei auch bei HipHop-Star Casper an der Gitarre aktiv), bestätigt diesen Eindruck während eines Interviews. „Es gibt so viel verschiedene Arten von Metal in Berlin, es ist definitiv eine sehr vitale Szene.“ Lars Ennsen, Sänger und Gitarrist der Band Sun Worship, sieht das Genre auch qualitativ auf einem guten Wege: „Es gibt auf jeden Fall unglaublich guten Kram aus Berlin.“
Von einer einzigen Szene zu sprechen erscheint dabei aber wenig sinnvoll. Kein Wunder, gibt es doch zig verschiedene Untergenres der Musikgattung, dessen Geburt man – als Heavy Metal – gemeinhin mit dem Aufkommen von Bands wie Black Sabbath, Led Zeppelin und Deep Purple in den späten sechziger Jahren gleichsetzt. Aus dieser Frühform des harten Rock haben sich unzählige Bindestrich-Gattungen wie Speed-, Thrash-, Death-, Sludge-, Doom- oder Black Metal entwickelt, in den vergangenen Jahren ist vor allem das Genre Drone („Dröhnen“) in Verbindung mit Metal angesagt gewesen.
Underground: Sun Worship haben bereits im Mai ihr allseits gefeiertes Album „Pale Dawn“ (Golden Antenna Records) veröffentlicht. Aktuell spielen sie keine Auftritte in Berlin, dafür ist Sun-Worship-Gitarrist Felix-Florian Tödtloff am 3. Dezember mit seinem Drone-Projekt Growth im Tiefgrund (Laskerstr. 5) beim „Doom & Drone & Ambient Saturday“ zu hören und sehen. Frisch erschienen ist das Ånd-Debüt „Aeternus” (This Charming Man Records/Cargo), live spielt das Quintett am 7. Dezember im Cassiopeia (Revaler Str. 99) und am 16. Dezember beim „Morgenstern Fest II“ im Tommy-Weisbecker-Haus (Wilhelmstr. 9). Ebenfalls gerade erschienen ist das Album ihrer Labelkollegen von Space Chaser: „Dead Sun Rising” (This Charming Man Records/Cargo). Am heutigen Samstag spielt im Tiefgrund die Berliner Post-Metal-Band Kalibos mit The Gentle Art Of Cooking People aus Polen, und im Cassiopeia sind am Samstag mit Suma aus Schweden und Zaum aus Kanada zwei Doom- und Drone-Bands zu Gast.
Overground: Mit den US-Bands Overkill und Crowbar spielen zwei Metal-Urgesteine am morgigen Sonntag im SO36 (Oranienstr. 190), und am Mittwoch, 16. November, sind dort Kvelertak aus Norwegen zu erleben, die auch auf Norwegisch singen. Außerdem kommen am Montag Metallica nach Berlin und werden an einem noch geheimen Ort ein Konzert zur Feier ihres neuen Albums geben. (jut)
„All diese Spielarten“, meint Ennsen, „existieren in Berlin parallel nebeneinander.“ Der Gitarrist stellt aber auch fest, dass die jeweiligen Musikszenen durchlässiger geworden seien.
Damit spricht Ennsen eine Entwicklung an, die man an der Spree zuletzt gut beobachten konnte. Metal findet nicht mehr nur an den szenetypischen Orten statt, sondern es gibt Berührungen insbesondere mit der experimentellen Musikszene und dem Noise und Noiserock. „Es gibt Veranstaltungen, bei denen das Publikum aus Leuten besteht, die aus den unterschiedlichsten Ecken kommen“, meint Ennsen. Ein Metalkonzert, auf dem nur Langhaarige und Kuttenträger zu finden sind: perdu.
Paradiesvögel der Szene
Die neue Mischung und Ausdehnung der Szene gefällt dabei nicht jedem Metaller. So mancher, sagt Ennsen, beäuge Bands wie sein Trio Sun Worship – alle kurze Haare, eher punksozialisiert, ohne offensichtliche Metal-Utensilien – skeptisch. „Wir sind Paradiesvögel in der Szene“, sagt der 38-Jährige mit den ordentlich gegelten Haaren und dem sich kräuselnden Bart. „Viele Metal-Hörer erwarten von einer Band ein fertiges und glaubwürdiges Gesamtpaket, zu dem auch lange Haare dazugehören. Wir wollen aber all dies nicht bedienen, wir haben auch keinen Bock darauf, uns zu verkleiden.“ Genauso enttäuschen sie andererseits die Erwartungshaltung des Publikums, wenn sie in Punkkontexten auftreten: „Denen erscheint Black Metal dann auch irgendwie nicht ganz koscher.“
Bands wie Sun Worship oder Ånd – ausgesprochen „Ond“, norwegisch für „Geist“ – ordnet man, in Ermangelung besserer Termini, dem Post Metal oder Post Black Metal zu. Dieses „Post“ zeigt treffend an, dass im Genre derzeit viel in Bewegung ist, dass die Ästhetik, die Haltung und der Sound des Metal nicht (mehr) festgefahren sind. International haben US-Gruppen wie Liturgy oder Deafheaven für Furore gesorgt, Erstere mit angejazztem Metal, Letztere mit einer Mischung aus Black Metal und Postrock. In Berlin haben diese Post-Genres gute Gelegenheiten zu blühen, da die Stadt mit ihren in fast allen Musiksparten wachsenden Szenen den richtigen Input bietet. Das Kollektiv The Ocean – inzwischen The Ocean Collective – wäre zum Beispiel eine der bekannteren Gruppen, die an der Spree ihre Karriere begann und dem experimentelleren Metal frönt. Im Underground gibt es zahlreiche weitere.
Ånd-Gitarrist Jan Korbach, den man mit seinen langen blonden Haaren und seinen volltätowierten Armen äußerlich schon eher als Metal-Anhänger ausmachen kann, sagt über den Sound seiner Band: „Im Vergleich zum klassischen Black Metal haben wir, glaube ich, eine transparentere Produktion. Der Verzerrungsgrad ist bei uns auch nicht so hoch. Und wir haben deutsche Texte, was wohl ebenfalls eher ungewöhnlich ist.“ Bei Ånd gibt es dazu Ausflüge in Richtung Ambient, insgesamt wird ihr düsterer Sound mit den Endzeittexten der derzeitigen Weltuntergangsstimmung durchaus gerecht. Die bei Death und Black Metal beliebten Blastbeats – schnelles Drumming – werden bei Ånd auch mal kurz unterbrochen: „Während andere Bands die ganze Zeit durchballern, gibt es bei uns Brüche“, erklärt der 34-Jährige.
Sun-Worship-Sänger Ennsen sagt, „knallen und ballern und live funktionieren“ müssten ihre Stücke auch – persönlich aber sei er daneben von völlig anderen Genres geprägt. Er nennt den Straßenkomponisten Moondog oder die Berliner Krautrocker von Ash Ra Tempel als Einflüsse.
Die Geschlechterfrage
Während Metal musikalisch gerade solcherlei spannende Transformationen erlebt, bleiben die Szenen weiterhin männlich dominiert – und glänzen nicht gerade mit Diversität. Wobei sich auch das langsam zu ändern scheint, in der Szene beliebte Bands wie Lucifer um Sängerin Johanna Sadonis und die Gruppe Albez Duz zeigen, dass harte Gitarrenmusik keine Frage des Geschlechts ist.
Angesichts einer solchen neuen Metalgeneration ist es wenig überraschend, dass in den vergangenen Jahren spannende neue Festivals entstanden sind. Seit zwei Jahren gibt es das tief im Underground zu verortende Swamp Fest im Herbst, bei dem viele hiesige Bands auftreten. Auch das immer Ende April stattfindende Desertfest im Astra, bei dem eher die größeren Kaliber auftreten, ist inzwischen fester Bestandteil des Konzertkalenders. Dies sind nur zwei Festivals unter vielen (Konzerthinweise siehe Kasten).
Neben all den jüngeren Entwicklungen bestehen aber auch alte Berliner Metal-Institutionen fort, man denke etwa an das Label Vendetta Records, das auf weit über 100 Veröffentlichungen zurückblickt, oder eine Band wie Drowned, die seit den frühen Neunzigern acht Alben veröffentlicht hat.
Uferlos und unterschätzt wären Attribute, die einem in den Sinn kommen, wenn man die Metalszene in Berlin im Jahr 2016 betrachtet. Und wahrscheinlich, das ist das Beste daran, auch noch unvollendet.
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