: Wie die Insel tickt
Island Hinter einer bunten Parteienlandschaft verbirgt sich ein kleines Volk, in dem jeder jeden kennt. Am Wochenende wird gewählt
wurde 1978 geboren. Er gilt als das vielversprechendste junge Talent in der isländischen Literatur. Er ist auch als Übersetzer und Kolumnist tätig. Seit 2001 erschienen von ihm acht Gedichtbände und vier Romane. 2012 erhielt er für "Böse" den Isländischen Literaturpreis.
von Eiríkur Örn Norðdahl
Zum Einstieg eine Anekdote. Auf der Homepage des isländischen Staatsrundfunks RÚV steht ein Wahl-O-Mat, mit dem wir, das Volk, herausfinden sollen, welche Kandidaten am besten zu uns passen. Soll Island mehr Asylsuchende aufnehmen (das sagen 94 Prozent)? Sind wir dagegen, dass Kindergärten privatisiert werden (13 Prozent)? Sollten Spätis Alkohol verkaufen (egal)?
Die mir ähnlichste Kandidatin ist Ásthildur Ósk Ragnarsdóttir von Björt framtíð, eine neue sozialdemokratische Partei. Zufällig ist Ásthildur Ósk Ragnarsdóttir meine erste Kindheitsliebe: Hilda, in die ich vom sechsten bis ungefähr zum elften Lebensjahr total verknallt war, bis sie mein Herz brach und per E-Mail Schluss machte. Ich werde sie nicht wählen.
Um die isländische Demokratie zu verstehen, muss man als erstes die Bevölkerungszahl berücksichtigen: 340.000 Menschen, davon rund 245.000 wahlberechtigt. Island ist eine Art Familienzusammenkunft, etwas größer als eine griechische Hochzeit, wo die Gäste aber zufällig alle die gleiche Sprache sprechen und eine gemeinsame Außengrenze haben.
Jeder 187ste ist Kandidat
Mit 12 politischen Parteien und 1.307 Kandidaten für 643 Parlamentssitze ist jeder 187ste Wähler zugleich Kandidat. Logischerweise ist jeder auf dem Wahlregister zumindest entfernt mit jedem anderen verwandt, und die Wahrscheinlichkeit, mit einem bekannten Kandidaten mindestens halb eng verwandt zu sein oder ihn persönlich zu kennen, ist hoch, um es vorsichtig auszudrücken.
Wenn ich also auf Facebook eine Partei kritisiere, muss ich jedes Mal dazu sagen, dass meine Kritik sich nicht auf meinen Freund Gylfi, meinen Cousin Magnús, die Frau meines Freundes Smári oder den Großvater des besten Freundes meines Sohnes bezieht. Und auch nicht auf Hilda. Wobei diese alle natürlich die einzig würdigen Vertreter ihrer Parteien sind, und wenn ihre Parteien ihnen nur ähnlicher wären, wären sie vielleicht wählbar. Denn wenn ich sie nicht extra erwähne und sie aus den offensichtlichen Schattenseiten ihrer Parteien ausdrücklich ausnehme, werden sie das sehen und es Wut-liken, und dann wird unser nächstes Zusammentreffen entweder peinlich oder gewalttätig.
Historisch wurde Island von einer Koalition aus libertären und nationalen Konservativen regiert, der Unabhängigkeitspartei und der Fortschrittspartei, manchmal mit Unterstützung einer der beiden traditionellen linken Parteien. Also von Bauern, Häuptlingen und Klassenverrätern.
Nur einmal – zwischen 2009 und 2013, direkt nach dem finanziellen Kollaps – war das Land links regiert, ohne Unterstützung durch oder Zugeständnisse an die Rechten.
Es gab also in einer Landesgeschichte, die bis zum Jahr 930 zurückreicht, vier Jahre verwässerten Sozialismus, dessen Wirtschaftspolitik größtenteils vom Internationalen Währungsfonds bestimmt wurde. Zugegeben, das Parlament Alþingi gibt es in seiner gegenwärtigen Form erst seit etwa 170 Jahren – aber davor wurde Alþingi zumeist von Häuptlingen, fremden Königen und heidnischen Priestern geleitet, also von Rechten.
Dieses Jahr sollen die Dinge anders werden. Zum einen liegen die Piraten – die nicht wirklich unter Häuptlinge, Bauern und Klassenverräter zu fassen sind – bei rund 20 Prozent in den Umfragen, trotz der oft rabiaten Versuche der Rechten, diese oft bunten Charaktere als melodramatische Heulsusen und unkontrollierbare Heuchler darzustellen. Der größte Skandal der Piraten war bisher, dass einer ihrer Führer seinen schulischen Hintergrund ungenau darstellte. Auf LinkedIn. Im Jahr 2006.
Langsam, aber sicher verschwindet die sozialdemokratische „Samfylkingin“, die ihre Zeit an der Macht damit verbrachte, eine unwillige Bevölkerung mit einer mittlerweile zurückgezogenen EU-Beitrittsbewerbung und den sehr unbeliebten Icesave-Abkommen zwangszuernähren. Das ist verrückt angesichts der Tatsache, dass die Partei vor zwei Jahrzehnten gegründet wurde, um die Linke zu vereinen. „Samfylkingin“ heißt „Bündnis“, und mit so einem Namen sollte man in den Umfragen nicht ganz unten liegen.
Sofern sie sich nicht zu den Piraten gerettet haben, sind die meisten Anhänger der Sozialdemokraten zu Björt framtíð gegangen, die „Lichte Zukunft“, deren Name wohl das Offensichtliche unterstreichen soll, nämlich dass ihre einzige Gemeinsamkeit mit Samfylkingin eine düstere Vergangenheit ist. Oder zur rechteren Viðreisn, eine liberale Abspaltung der Unabhängigkeitspartei.
Düstere Vergangenheit
Zum Gesamttableau der Gegner der Häuptlinge und Bauern muss man noch zwei populistische Parteien hinzuzählen, Dögun (Morgenröte) und Flokkur Fólksins (Volkspartei), dazu die halbkommunistische Alþýðufylkingin, die Humanisten, und die nationalistische Þjóðfylkingin, die es zwar noch nicht lange gibt, die aber schon in einem Chaos gegenseitiger Vorwürfe, Unterstellungen und Unfähigkeiten untergehen und damit bestätigen, dass die schärfste Waffe gegen Faschismus, klug eingesetzt, die Dummheit der Faschisten ist.
Aber auch verirrte Wähler finden irgendwann wieder nach Hause. Alle Parteikader zittern jetzt und klammern sich an jeden verfügbaren Strohhalm. Natürlich behauptet jeder von ihnen, auf dieser griechischen Hochzeit der Einzige mit einem guten Gedächtnis zu sein. Weißt du nicht mehr, wie Cousin Siggi den ganzen Ouzo trank? Haben wir etwa vergessen, wer am verdorbenen Baklava schuld war? Also wenn wieder dieser blöde DJ kommt, dann gehe ich!
Ich habe mitangesehen, wie mein Land in den vergangenen Jahren viele Veränderungen ausprobiert hat. Eine neue Verfassung (festgefahren). Anarchopopulismus in Reykjavík (Technokratie mit liberaler Fassade). Banker einsperren (kompliziert und am Ende unbefriedigend). Die rechte Regierung stürzen (und sie dann zurück an die Macht wählen).
Nach dem Wochenende, davon bin ich ziemlich überzeugt, werden wir zum Status quo von Bauern und Häuptlingen zurückkehren. Vielleicht wenigstens mit ein paar Klassenverrätern. Und dann werden wir auf eine neue Revolution hoffen.
Aus dem Englischen von Dominic Johnson
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