: „Wir können nicht so weitermachen wie bisher“
Verkehr Die Koalition von Rot-Rot-Grün hat die Ausweitung von Fahrradstraßen auf ihrer Agenda. Das müsse aber mit Aufklärung und Kontrollen einhergehen, fordert Unfallforscher Siegfried Brockmann
Interview Plutonia Plarre
taz: Herr Brockmann, 2014 und 2015 sind jeweils zehn Radfahrer tödlich verunglückt. 2016 hat es bereits 14 Tote gegeben, und das Jahr ist noch nicht zu Ende. Ist das eine zufällige Steigerung?
Siegfried Brockmann: Nein. Das liegt daran, dass die Zahl der Radfahrer stetig zunimmt und die Rahmenbedingungen sich nicht ändern.
Was für eine Schlussfolgerung ziehen Sie als Unfallforscher daraus?
Große Probleme im Unfallgeschehen zwischen Auto- und Radfahrern gibt es in den Kreuzungs- und Einmündungsbereichen. Der Abbiege-Unfall spielt ja im Unfallgeschehen eine der Hauptrollen. Dort könnte man vermehrt mit eigenen Ampelschaltungen agieren, um die beiden Verkehrsarten zu entzerren.
Und sonst?
Grundsätzlich gilt: Wenn der Radfahrerverkehr so deutlich zunimmt, wie er das tut, muss sich das auch in der Infrastruktur widerspiegeln.
Haben Sie eine Idee?
Man sollte gucken, was außerhalb des Hauptstraßennetzes machbar ist an sinnvoller Radverkehrsführung.
57, hat Politologie studiert. Seit 2005 leitet er das Institut für Unfallforschung des Gesamtverbands der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Der Verband hat den Modellversuch der Fahrradstaffel der Polizei evaluiert und sich an den Kosten beteiligt.
Ist das ein Plädoyer für mehr Fahrradstraßen, wie es auch die Initiative Volksentscheid Fahrrad fordert?
Der Volksentscheid fordert 350 Kilometer Straßen mit Vorrang für Radfahrer. So einfach, wie das da steht, finde ich das aber ein bisschen blauäugig. Wenn ich richtig zähle, hat Berlin im Moment 13 Fahrradstraßen. Die Linienstraße in Mitte und die Prinzregentenstraße in Wilmersdorf sind zwei Beispiele von vielen. Sie funktionieren allesamt nach dem gleichen Muster: schlecht oder gar nicht.
Was ist das Problem?
Überall gibt es zwar ein schönes Fahrradstraßenschild, aber es wird von den Autofahrern ignoriert.
Um was für ein Schild handelt es sich?
Es ist rechteckiges weißes Schild mit einem blauen Fahrradpiktogramm. Darunter steht das Wort Fahrradstraße. Es ist das sogenannte Zeichen 244 der Straßenverkehrsordnung. Es besagt: Anderer Fahrzeugverkehr als Radverkehr darf Fahrradstraßen nicht benutzen. Es sei denn, das ist durch Zusatzzeichen erlaubt. Das Problem ist: Den meisten Autofahrern ist das nicht bekannt. Sie wissen weder, dass sie dort eigentlich gar nicht reinfahren dürfen, noch, dass sie, wenn überhaupt, nur Tempo 30 oder langsamer fahren dürfen, noch, dass dort Radfahrer nebeneinander fahren dürfen.
17 Straßen sind derzeit in Berlin als Fahrradstraßen ausgewiesen. Kennzeichen ist ein weißes rechteckiges Schild mit einem blauen Fahrradpiktogramm (siehe Abbildung). Die Linienstraße in Mitte und die Prinzregentenstraße in Wilmersdorf sind wohl die bekanntesten Straßen.
350 Kilometer Fahrradstraßen auf Nebenstrecken sollen nach dem Willen der Initiative Volksentscheid Fahrrad in Berlin entstehen.
Die Bezirke prüfen derzeit weitere Straßen auf ihre Eignung als Fahrradstraße. Allein in Pankow sollen elf Straßen getestet werden. Würden diese alle zu Fahrradstraßen, wäre Pankow in Berlin Vorreiter.
In der Prinzregentenstraße 53 in Wilmersdorf kann am heutigen Freitag ab 11 Uhr beobachtet werden, wie sich Autofahrer auf einer Fahrradstraße verhalten. Mit vor Ort: der Unfallforscher Siegfried Brockmann und die stellvertretende Leiterin der Fahrradstaffel der Polizei, Andrea Barthels. Der Modellversuch Fahrradstaffel läuft Ende 2017 aus. (plu)
Was muss sich ändern?
Das Schild muss den Verkehrsteilnehmern bekannt gemacht werden. Damit einhergehend müssen verstärkte Polizeikontrollen stattfinden. Zumindest für eine gewisse Zeit, bis sich das durchgesetzt hat. Es muss darum gehen, bestimmte Verhaltensweisen zu durchbrechen, einhergehend mit Aufklärungsmaßnahmen.
Ist das ein Appell an den neuen rot-rot-grünen Senat?
Durchaus. Wenn der Senat auf das Fahrradstraßenkonzept setzt – was ich prinzipiell für gut und richtig halte –, müssen hier Änderungen durchgeführt werden. Was das angeht, habe ich in Berlin allerdings bisher keine Bemühungen erkennen können. Eigentlich geht es um diese grundsätzliche Botschaft: Wir können nicht so weitermachen wie bisher.
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