: Sprache als ewiger Schmerz
LITERATUR Neben Blockbustern wie Henning Mankell und M. A. Numminen präsentieren die Nordischen Literaturtage auch feinsinnig-minimalistische Romane, die Abgründe der nordeuropäischen Gesellschaften ausleuchten, ohne polemisch oder wehleidig zu werden
VON PETRA SCHELLEN
Die nordeuropäische Literatur der letzten Jahre ist nicht gerade arm an Neuerscheinungen. Auch nicht an Übersetzungen etwa ins Deutsche, wobei an erster Stelle immer noch die unvermeidlichen Krimis stehen. Immer noch leben Buchhändler und Verlage hierzulande von jenem diffusen Nordeuropa-Klischee, das mit Nebel und verwunschenen Fjord-Hütten arbeitet, ohne über die dortigen Lebensbedingungen – etwa den Zustand des norwegischen Gesundheitssystems – Bescheid zu wissen. Oder über die Aufarbeitung etwa der Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs in Dänemark und Norwegen.
Differenzierte Innenperspektiven bietet da eher die nicht-kriminologische Literatur, und ihr widmen sich die zweijährlichen Nordischen Literaturtage im Literaturhaus, die am Dienstag starten. Dass der Norden in den letzten Jahren – neben Krimis und deftigen finnisch-popliterarischen Novellen etwa von Mauri Antero Numminen – vor allem mit Minimalismus assoziiert wird, ist Autoren wie dem Norweger Jon Fosse geschuldet, der es längst auch auf deutsche Bühnen schafft. Ihm folgten Jüngere, und eine von ihnen ist die 1969 geborene Norwegerin Hanne Ørstavik, die bereits mehrere Preise bekam – für ihren minimalistischen, trotzdem abgründigen Stil. „Die Pastorin“ heißt ihr jüngster Roman, der den Umgang einer jungen Frau mit nahen und fernen Selbstmorden beschreibt. Sie scheitert immer wieder beim Versuch, an diese Menschen heranzukommen; ein leider aktuelles Thema.
Sprachlich sucht Ørstavik dabei weit mehr: Strukturen, Linien von Beziehungslandschaften, von Gesellschaft möchte sie nachzeichnen. „Ich bin in der nordnorwegischen Finnmark aufgewachsen, wo alles weit und karg ist und nur noch Linien die Landschaft markieren“, sagt sie. Genau diese Linien, die doch Struktur, Logik, Nachvollziehbarkeit ergeben müssten, sucht sie mit Worten, Sätzen, die mal elegant ineinander greifen, mal hart aufeinander prallen. Oder autistisch nebeneinander stehen bleiben. Fast kalligraphisch ist Ørstaviks Versuch, auch mit Weiß- bzw. Schweigeräumen zu arbeiten, sich einen „Raum aus Sprache in dem ich leben kann“ zu schaffen. Aber sie weiß, sie kann es nicht, jedes Wort geht um Lichtjahre fehl, und dieses Ringen ist Ørstaviks Grund zu schreiben.
Ähnlich ergeht es – in gemäßigter Form – ihrem Landsmann Edvard Hoem, der, explizit autobiographisch, die Geschichte eines Jungen erzählt, der eigentlich den elterlichen Bauernhof erben soll, aber lieber lesen und schreiben mag. Ein vergleichsweise harmloses Thema angesichts seines vorausgegangenen Romans, der „Geschichte von Mutter und Vater“, die vom rüden Umgang der norwegischen Nachkriegsgesellschaft mit norwegisch-deutschen „Besatzungskindern“ handelt.
Der Däne Erling Jepsen wiederum hat etwas sehr Mutiges getan: Er hat den gesamten Roman „Die Kunst im Chor zu weinen“ aus der Perspektive eines Elfjährigen geschrieben, ohne folkloristischem Kindheits-Kitsch zu verfallen. Der Vater des Protagonisten ist Grabredner in den 50ern, die Eltern benehmen sich komisch, und dann ist da die einst vom Vater so besonders geliebte, plötzlich in die Psychiatrie verbrachte Schwester. Das alles in den 50er Jahren in einer Kleinstadt in Jütland. Man ahn die Abgründe, ahnt den überstrapazierten Willen des Jungen, harmlose Erklärungen zu finden und ist ständig vor die Entscheidung gestellt, der rationalisierend-verharmlosenden Variante der Ereignisse zu glauben oder die Abgründe zur Kenntnis zu nehmen, die darunter liegen.
Und Naja Marie Aidt, die 1963 im – politisch zu Dänemark gehörenden – Grönland geborene Autorin? Macht keineswegs, wie Peter Hoeg in „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ die Ausgrenzung der Grönländer durch die dänische Mehrheitsgesellschaft zum Thema, sondern beleuchtet Beziehungen. Packt an sich Alltägliches in feinsinnig-poetische, oft lakonische Sprache. Diese Reduktion liegt ihr, hat die mehrfach preisgekrönte Autorin doch ursprünglich als Lyrikerin begonnen.
Dass das Literaturhaus darüber hinaus die unvermeidlichen Blockbuster Henning Mankell und Lars Gustafsson – letzterer ist bereits ausverkauft – lud, mag der Furcht vor leeren Stuhlreihen geschuldet sein. Dass man mit den Isländern Sjón und Bragi Olafsson zwei Männer präsentiert, die einst in Björks Band Sugarcubes mitwirkten, dem Wunsch nach Auflösung der Grenzen zwischen E- und U-Literatur sowie zwischen den Genres. Hierzu wird auch der seit Jahren gefeierte finnische Autor, Sänger, Komponist und Entertainer M. A. Numminen beitragen, der in Hamburg Lieder von Wittgenstein und Heine singt.
■ Di, 24. 11. bis So, 29. 11., Literaturhaus, Schwanenwik 38, Infos: www. nordische-literaturtage.de
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