: Medium der Kontaktaufnahme
Fotografie Die Bildsprache von Annelise Kretschmers Fotos ist bis heute höchst aktuell. Das Käthe Kollwitz Museum in Köln will der Fotografin neue Bekanntheit verschaffen
von Damian Zimmermann
Mit der Wiederentdeckung von Fotografen ist es so eine Sache. Da schlummern die Fotos seit Jahrzehnten in den Archiven und Sammlungen und irgendwann kommt jemand auf die Idee, diesen Schatz endlich einmal der Öffentlichkeit zu präsentieren und gleichzeitig der Kunstgeschichte ein Kapitel hinzuzufügen. Besonders Frauen scheinen gern übersehen worden zu sein – Germaine Krull und Lee Miller sind nur zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit.
Ein weiteres Beispiel ist Annelise Kretschmer (1903–1987). Sie eröffnete als eine der ersten Frauen in Deutschland ein eigenes Fotostudio in ihrer Geburtsstadt Dortmund. 1929 nahm sie an der legendären Wanderausstellung „Film und Foto“ des deutschen Werkbundes sowie 1930 an der Ausstellung „Das Lichtbild“ in München teil, weshalb sie gerne auch als „eine der bedeutendsten Porträtfotografinnen der späten Weimarer Republik“ bezeichnet wird. Bereits 1982 widmete Ute Eskildsen ihr im Museum Folkwang in Essen eine Einzelausstellung, 1994 war sie dann dort auch Teil der Ausstellung „Fotografieren hieß teilnehmen“ über Fotografinnen der Weimarer Republik, wo sie neben Lotte Jacobi, Ilse Bing und Lucia Maholy präsentiert wurde. Dennoch ist sie heute nahezu unbekannt.
Die Ausstellung „Annelise Kretschmer – Entdeckungen. Photographien 1922 bis 1975“ im Kölner Käthe Kollwitz Museum möchte dies nun erneut ändern und zeigt mit mehr als 80 Vintage-Prints, die Leihgaben aus dem Nachlass der Künstlerin sowie dem Essener Museum Folkwang sind, einen Überblick über ihr Schaffen, aus dem vor allem ihre Porträts hervorstechen. Denn die Kamera wurde ihr zum legitimen Medium der Kontaktaufnahme – im Studio genauso wie unterwegs. Ihre Bilder kommen ohne Requisiten und ohne große Inszenierung, vor allem aber ohne den schweren Pathos jener Zeit aus. Kretschmer versuchte, wie sie selbst sagte, „den Menschen zu einer Selbstdarstellung zu bewegen, in der seine wesentlichen Charakterzüge zum Ausdruck kommen. Wenn der Fotograf es schafft, einen Kontakt zu seinem Gegenüber herzustellen, dann kann eine Charakterisierung gelingen.“
Das ist natürlich ein hohes Ziel, vor allem, wenn völlig Fremde in ihr Studio kamen. Nicht immer gelang es. Ein Kunde erinnerte sich jedenfalls, dass er mit dem Porträt, dass sie von ihm gemacht hat, zunächst nicht zufrieden war. Erst Jahrzehnte später sei ihm aufgefallen, dass das Foto ihn so zeige, wie er im Laufe seines Leben geworden sei. Das klingt schon arg verklärend. Vielleicht war es schlichtweg Zufall. Die Frage, wie viel ein einzelnes Porträt überhaupt über den in den meisten Fällen doch vielschichtigen Charakter eines Menschen aussagen kann, wird hier gar nicht mehr gestellt. Aber das ist man in der Auseinandersetzung mit dem Medium bereits gewohnt.
Bemerkenswert ist allerdings, dass die als Annelise Silberbach geborene Fotografin nur verhältnismäßig wenige Aufnahmen mit ihrer zweiäugigen Rollei im Studio machte: Nach meist zehn bis zwölf Fotos (also wenn der erste Rollfilm verschossen war) wurde die Studiositzung bereits wieder beendet. Das galt schon damals als wenig und ist heute quasi unvorstellbar.
Kretschmers Stil war geprägt von der Neuen Sachlichkeit (Kretschmer war Meisterschülerin von Franz Fiedler). Ihr geht es um eine möglichst objektive Bildsprache und Abstand zum Sujet. Umso erstaunlicher ist die Nähe, die sie zu ihren Modellen aufgebaut hat – darunter auch Künstler wie Ewald Mataré, Albert Renger-Patzsch oder Daniel-Henry Kahnweiler, aber auch eine unbekannte Journalistin auf dem Kirchentag in Dortmund 1963 oder der Chefkurator des Louvre, François Mathey. Ihn zeigt sie fast spitzbübisch mit zur Seite gestrecktem Kopf, so dass seine kleine, vom morgendlichen Rasieren stammende Schnittwunde am Hals sichtbar wird.
Die großartigsten Porträts fertigte Kretschmer allerdings von ihrer eigenen Familie: Die kleine Sequenz, in der ihr Mann, der Bildhauer Sigmund Kretschmer, mit den Kindern am Strand herumtollt, ist von einer solch feinen beiläufigen Intimität und bis heute höchst aktuellen Bildsprache, wie man sie aus jener Zeit kaum kennt. Und die Porträts ihrer Kinder, die während ihres zweijährigen Aufenthalts in Worpswede entstanden (als „Halbjüdin“ verschlechterte sich ihre Auftragslage ab 1933 und sie wurde aus der Gesellschaft Deutscher Lichtbildner ausgeschlossen), gehören wahrscheinlich zu den stärksten Kinderporträts jener Zeit überhaupt. Zum Niederknien: das Dreier-Porträt ihrer Töchter neben einer Birke. Die Älteste im Vordergrund schaut fast etwas grimmig in die Kamera, obwohl es scheint, als wolle ihr Körper eigentlich aus dem Bild herausgehen. Die Jüngeren im Hintergrund sind etwas unscharf, verunsichert und rückwärtsgewandt. So erwachsen und vielschichtig, kurz: so charakterstark hat Kretschmer selbst die Alten selten porträtiert.
Gerade im Vergleich zu diesen Aufnahmen wirken Kretschmers Paris-Fotografien, die sie 1928 während einer Frankreichreise machte, höchstens wie gestalterische Fingerübungen. Sie ist eine Flaneurin, aber die Details, die sie interessieren, sind meist so kleinteilig, dass sie die Fotos überall hätte aufnehmen können: Meist sehen wir Schattenspiele auf Strukturen, das Flüchtige auf dem Beständigen. Ob es ihr an Interesse oder an der Fähigkeit mangelte, sich auf die Stadt selbst einzulassen, wie es andere Fotografen vor und nach ihr getan haben, wissen wir nicht. Die Ausstellungsmacher hätten jedenfalls gut daran getan, diese kleine Episode auszusparen und uns mehr von dem zu zeigen, was Kretschmer ausmacht – und das sind nun einmal ihre Menschenbilder.
Bis 27. November, Käthe Kollwitz Museum, Köln
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