: Beten und Untertauchen
AUS PARIS DOROTHEA HAHNUND SYLVIE FRANÇOISE (FOTOS)
„Lieber Gott, mach, dass wir Papiere kriegen. Dass wir in Frankreich bleiben dürfen. Dass es Rachel und Jonathan gut geht. Und dass Mama arbeiten darf.“ – Naomie betet dreimal täglich. Beim Zubettgehen. Beim Aufstehen. Und vor dem Essen. Neuerdings wacht die Zehnjährige mitten in der Nacht auf. In dem Dreibettzimmer in der Rote-Kreuz-Unterkunft hinter einem hohen Eisengitter, wo sie seit August mit der Mutter und ihrer letzten verbliebenen Schwester wohnen muss, betet das Mädchen in solchen Nächten noch einmal zusätzlich. Am innigsten für ihre beiden Geschwister. Die 15-jährige Rachel und der 14-jährige Jonathan sind seit acht Wochen untergetaucht. Das könnte die Familie retten. Das weiß Naomie. Aber sie sehnt sich nach ihnen. Vor allem nach Jonathan, dem großen Bruder, mit dem es sich so schön spielen lässt.
Beleidigt und bedroht
Vor vier Jahren haben die Makombos, die Mutter und vier ihrer Kinder, Hals über Kopf die Demokratische Republik Kongo verlassen. Es war eine Flucht vor den Militärs. Immer wieder rückten sie der damals 43-jährigen Barbe Makombo zu Leibe. Beleidigten und bedrohten sie und taten ihr Gewalt an. Ihre Kinder mussten zuschauen. Jonathan, der Sohn, sagt nur einen Satz: „Sie haben Mama vor unseren Augen verfolgt.“ Nach dreifacher Prüfung lehnt Frankreich den Asylantrag von Barbe Makombo ab. „Aus Mangel an Beweisen.“ So lautet die Begründung für die Ablehnung in 85 Prozent aller Asylanträge.
In diesem Jahr fordert in Paris der französische Innenminister Nicolas Sarkozy seine Präfekten auf, Ausländer ohne Papiere radikal abzuschieben. Er verlangt „Effizienz“. Seine Mitarbeiter raten den Präfekten, dass sie sich nicht von irgendwelchen Menschenrechtlern beeindrucken lassen sollen, „die nur sich selbst repräsentieren“. Sarkozy benutzt Abschiebezahlen als politisches Argument. Er will sich für die nächsten Präsidentschaftswahlen profilieren. Im Département Yonne fällt das Los auf Familie Makombo. Seit fast vier Jahren lebt sie in dem Städtchen Sens im nördlichen Burgund. Die vier Kinder gehen dort in die Schule, dort haben sie ihre Freunde. Machen Sport. Gehen sonntags in die evangelistische Pfingstgemeinde. Die Mutter ist in der Gemeinde aktiv. Das Recht zum Arbeiten hat sie nicht.
Am Dienstag, dem 9. August um 9 Uhr früh, zwei Wochen nach einer Unterleibsoperation, ist Barbe Makombo auf die Polizeiwache von Sens geladen. Obwohl sie schriftlich die Aufforderung erhalten hat, Frankreich zu verlassen, glaubt sie, dass sie noch eine Chance hat. Zum Abschied sagt sie ihrer Tochter Rachel: „Im Eisschrank liegt eine Putenkeule. Tu sie in den Ofen, wenn ich bis 11 Uhr noch nicht zurück bin.“ Die Polizei nimmt Barbe Makombo als Erstes die Handtasche ab. Sie ist verhaftet. Sie soll mit ihren Kindern „an die Grenze zurückgeführt werden“. Polizisten werden sie bis nach Kinshasa begleiten. Sollte Barbe Makombo sich wehren, werden sie ihr im Flugzeug Handschellen anlegen.
Als die Polizisten die Mutter um 12 Uhr in ihre Wohnung zurückbegleiten, sind Rachel und Jonathan verschwunden. Kleider und etwas Geld haben sie mitgenommen. Bei den beiden kleinen Töchtern, die Ferien in einem Kinderzeltlager machen, hat die Polizei mehr Erfolg. Naomie ist am Tag des Polizeieinsatzes für das Ponyreiten angemeldet. Grace für eine Waldwanderung. „Habt keine Angst“, sagt der Direktor, der die beiden Mädchen in sein Büro holt. Aber als sie ihre weinende Mutter zwischen den Polizisten sieht, versteht Naomie sofort: „Wir müssen zurück.“ In das Land, in dem schon ihr Vater und vier Geschwister verschwunden sind.
Die beiden Großen, Rachel und Jonathan, wissen, dass ihre Mutter nur abgeschoben werden kann, wenn die minderjährigen Kinder bei ihr sind. Das Gesetz verbietet es, Familien zu trennen. Als die Mutter nach einer Stunde auf der Polizeiwache nicht zurückgekommen war, entschieden sie, zu verschwinden. „Wir retten Mama“, sagt Jonathan. Er ist der letzte Sohn, der Barbe Makombo geblieben ist.
„Wird mein Leben immer so bleiben?“, fragt sich Rachel. Das große Mädchen mit den Dutzenden geflochtener Zöpfchen hat seit der ersten Flucht vor vier Jahren schon oft gepackt. Die beiden Geschwister fahren mit dem Zug in das eineinhalb Stunden entfernte Paris. Sie bleiben im Wartesaal des Gare de Lyon. Sie wirken älter. Einmal ruft ein Freund Jonathan auf dem Handy an. „Wir sind abgehauen“, sagt Jonathan und legt auf. Am dritten Tag verlassen die beiden den Bahnhof. „Jemand“ holt sie ab. Seither leben Rachel und Jonathan an ständig wechselnden Orten. Betreut von Erwachsenen, die nicht akzeptieren wollen, dass ihr Land so mit ihnen umspringt. Die Erwachsenen, darunter viele Lehrer, beherbergen und verköstigen sie und geben ihnen Privatunterricht. Vor allem in Englisch, Spanisch und Mathe. Wenn sie allein sind, surfen die Geschwister im Web und gucken Fernsehen.
Die Erwachsenen, die sie verstecken, machen eine Kampagne, damit die Familie Makombo Aufenthaltspapiere bekommt. Ende September veröffentlicht das „Netzwerk Erziehung ohne Grenzen“ eine Petition. Darin bekennen führende Köpfe der französischen Linken, dass sie Rachel und Jonathan geholfen haben. Und dass sie es wieder tun würden – auch für andere Kinder. Zu den Erstunterzeichnern gehören der Chef der Lehrergewerkschaft Gérard Aschieri, der Biobauer José Bové, der Attac-Gründer Bernard Cassen, die KP-Chefin Marie-Georges Buffet und die grüne Europaabgeordnete Alima Boumedienne. Mehr als 6.000 Menschen haben inzwischen unterzeichnet.
Der Fall Makombo wird landesweit bekannt. Im nördlichen Burgund kommen die Mutter und ihre beiden kleinen Töchter unter Hausarrest. Dann folgt die Einweisung in die Rote-Kreuz-Unterkunft in dem Industrieort Migennes. Das entfernt die Familie 40 Kilometer von ihrem Wohnort. Und von der Pfingstgemeinde. Die Mutter erhält Lebensmittelmarken im Wert von 30 Euro pro Woche für alle drei. Die Schulbehörde streicht die Kinder von ihren Listen. Als die mittlere Tochter Grace nach den Ferien nach Sens zurückkommt, verweigern Polizisten der Zwölfjährigen den Zugang zur Schule.
Die Polizei verhört die Mutter. Sie sagt, dass sie nur weiß, was in der Zeitung steht. Die Polizei droht der Mutter, dass eigentlich sie die Fahndung bezahlen müsse. Sie beschlagnahmt auch ihr Telefonverzeichnis. Und sie durchsucht die Wohnungen von Schulfreunden, die Pfingstgemeinde sowie die Privaträume einer Radiojournalistin, die eine Reportage über die Familie veröffentlicht hat. Rachel und Jonathan findet sie nicht.
Ende September wollen die beiden Jugendlichen ein Interview geben. Von einer Pariser Métro-Station folgt eine Autofahrt zu einer Wohnung in eine weit entfernte Vorstadt, wo sich die beiden aufhalten sollen. „Rachel und Jonathan haben nichts Böses getan“, sagt der Hausherr, „was ihnen geschieht, ist eine große Ungerechtigkeit.“ Er riskiert drei Jahre Gefängnis. Für Beihilfe zu illegalem Aufenthalt.
Rachel und Jonathan werden mit einem anderen Auto zur Wohnung gebracht. Sie waren in den vergangenen acht Wochen nur einmal in einem Park, nur einmal im Schwimmbad. Jonathan vermisst seine Mutter. Er vermisst die kleinen Schwestern. Er vermisst sogar die Schule. Aber aufgeben will er nicht. „Wir halten durch, bis Mama Papiere kriegt“, sagt er. Seine Schwester nickt. Rachel möchte Krankenschwester werden. Jonathan Buchhalter. In Frankreich. Das Land, wohin sie abgeschoben werden sollen, nennt der 14-Jährige „die Hölle“. Im Département Yonne hat Präfekt Jean-François Tallec als oberster Repräsentant der Pariser Regierung das Recht, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Auch noch nach einem negativen Asylbescheid. Vor wenigen Tagen empfängt er eine Delegation, die ihn auffordert, von diesem Recht Gebrauch zu machen.
Papiere, Arbeit, Frieden
Mit dabei sind der 52-jährige Pastor Jean-Jacques Avis von der Pfingstgemeinde und seine neuen Freunde, darunter Kommunisten und „Antiklerikale“, wie der Pastor sagt. Die drohende Abschiebung der Familie Makombo hat auch sein Leben verändert. Er beendet jetzt seine Predigten mit Informationen über die Lage der Makombo und anderer Papierloser. Der Präfekt erklärt der Delegation, dass sie die Lage der Familie verschlimmere, indem sie ihr falsche Hoffnungen mache. Der Präfekt: „Die einzige Lösung ist die Rückkehr in ihr Land.“
Barbe Makombo ist jetzt 47 Jahre alt, bei ihrer Flucht mussten ihr Mann Benjamin und vier Kinder in Kinshasa zurückbleiben. Nur von ihrer ältesten im Land gebliebenen Tochter weiß Barbe Makombo, dass sie lebt. Unter einem anderen Namen.
„Ich bin eine ganz normale Frau“, sagt die Mutter leise, „ich suche keinen Luxus. Ich möchte bei meinen Kindern sein. Papiere haben. Eine Arbeit. Frieden.“ Seit acht Wochen hat sie Rachel und Jonathan nicht mehr gesehen. Die Mutter ist hin- und hergerissen zwischen Bewunderung: „Sie sind jetzt groß“, und Sorge: „Das sind noch Kinder“. Ihre Hoffnungen richten sich auf Gott. „Er wird uns helfen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen