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Gespräch Warum brauchen wir Geschichten? Die britische Therapeutin Arabella Kurtz und der südafrikanische Autor J. M. Coetzee führen einen Dialog über die vielen verschiedenen Funktionen des ErzählensDas Ich – eine bewohnbare Fiktion?

Glaubt, dass Sehnsüchte Fiktionen sind: J. M. Coetzee Foto: Jerry Bauer/Opale/Studio X

von Katharina Granzin

Die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen, sind vielleicht nicht wahr, aber sie sind alles, was wir haben“, fasst J. M. Coetzee an einer Stelle die vorangegangenen Ausführungen seiner Dialogpartnerin zusammen. Um den Begriff der Wahrheit kreist das Gespräch der beiden lange, um die „Realität“, um das „Ich“. Mit all diesen Begriffskomplexen haben sowohl der Schriftsteller als auch die Psychologin in ihrer beruflichen Praxis ständig zu tun. Der südafrikanische (inzwischen in Australien lebende) Autor J. M. Coetzee und die britische Psychotherapeutin Arabella Kurtz begannen vor einigen Jahren eine schriftliche Zusammenarbeit, die sich zunächst in einem Zeitschriftenbeitrag niederschlug.

Mit „Eine gute Geschichte“ entstand nun ein gemeinsames Buch, das genau das ist, was sein Untertitel verspricht, nämlich ein Gespräch. Ein schriftliches allerdings, was große Vorteile hat. Jeder Dialogpartner hat abwechselnd einen eigenen längeren Abschnitt zu ­schreiben, wird darin nicht unterbrochen und kann in Ruhe seinen Gedankengang entwickeln. Im Gegenzug hat die Empfängerin lesend Gelegenheit, die Gedanken des anderen ebenso in Ruhe nachzuvollziehen, bevor sie antwortet.

Das Suchen nach einer „Wahrheit“ ist wichtiger, als sie dann auch zu finden

Das Ergebnis ist ein lebendiger, gedanklich fundierter und anregender Dialog, in dem sich interessanterweise – vielleicht auch erwartbarerweise – auch die unterschiedlichen beruflichen Rollen beider Gesprächspartner spiegeln. Während der berufsmäßige Erzähler Coetzee das Gespräch vorantreibt, persönliche Erlebnisse und subjektive Prägungen besteuert, neue Gedanken entwickelt oder Fragen aufwirft, hält die Therapeutin sich vollständig bedeckt, was ihren persönlichen Hintergrund betrifft, ordnet Fragen häufiger fachlich ein, als dass sie Fragen an das Gegenüber stellt, und ist um äußerliche Objektivität bemüht.

Über vieles sind beide sich, bei unterschiedlicher Perspektive auf manche Themen, einig. Natürlich über die Wichtigkeit des Geschichtenerzählens: um die eigene Identität zu stützen, um das Nachdenken über Geschehenes zu fördern und so weiter. „Sie sind alles, was wir haben.“ Dass das Suchen nach einer „Wahrheit“ wichtig ist, nicht aber (sehr grob zusammengefasst) ihr Finden, weil es „die Wahrheit“ ja gar nicht wirklich gibt, bedarf auch keiner kontroversen Diskussion.

Will Menschen helfen, sie selbst zu sein: Arabella Kurz Foto: Michael Kurz

Anders verhält es sich mit Begriffen, die in der individuellen Psychotherapie ganz selbstverständlich zum Diskurs gehören und dabei nicht hinterfragt werden – weil das vielleicht auch gar nicht sinnvoll wäre. Das „Ich“ ist dafür ein zentrales Beispiel. Während die Therapeutin es für ein sinnvolles, ja notwendiges Ziel hält, Menschen zu helfen, sie „selbst“ zu sein, schreibt der Autor, „dass unsere eigenen Bedürfnisse und Sehnsüchte einen fiktionsähnlichen Status haben. […] Wir probieren sie aus, und wenn sie uns passen, bewohnen wir sie.“

An anderer Stelle wird der größere Fokus des Schriftstellers deutlich. Coetzee entwickelt, von verschiedenen Seiten her und mit Anekdoten aus dem eigenen Leben illustriert, interessante Gedanken zum regressiven Verhalten von Menschen in Gruppen, verbindet dies zum einen mit Ideen zur Evolutionsbiologie, zum anderen mit Fragen an die jüngste Vergangenheit und zum Begriff der Nation. Seine Gesprächspartnerin aber hat über das Gruppenthema gar nichts zu sagen, entgegnet auf Coetzees kritische Gedanken zum Nationalismus nur, ihr scheine, der Gedanke der Nation habe doch eher viel Positives bewirkt.

Wenn der Südafrikaner der Britin daraufhin schreibt, in dieser Differenz zeige sich ganz offenbar ihr unterschiedlicher Hintergrund, hat er damit nebenbei auch die Grenzen von Kurtz’scheinbarer beruflicher Objektivität aufgezeigt.

„Eine gute Geschichte“ ist weder ein Sach- noch ein Fachbuch. Es informiert nicht, klärt nicht auf, beantwortet keine Fragen, sondern wirft sie nur auf. Doch genau diese Offenheit ermöglicht es einem vielleicht sogar, Leben und Literatur nun auf eine ganz andere Weise zusammenzudenken als zuvor.

J. M. Coetzee, Arabella Kurtz: „Eine gute Geschichte“. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Fischer, FFM 2016, 256 S., 24 Euro

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