: Wo das Ich war, klafft ein Loch
Musiktheater Mit einem wenig bekannten Stück von Beethoven versucht sich das „Büro für postidentisches Leben“ in der Neuköllner Oper an der Überwindung enger Identitätskonstruktionen
Im Büro für postidentisches Leben geht niemand ans Telefon. Der Anrufbeantworter aber hält ein Set von Anweisungen bereit, die reichlich absurd sind. Sie setzen die Zuschauer des dadaistisch verspielten Abends „Büro für postidentisches Leben“, der in der Neuköllner Oper aufgeführt wird, zunächst auf eine parodistische Spur. Konkret leben lässt sich dieses Konstrukt Postidentität wohl nicht, obwohl viele theoretische Begriffe in seine Richtung weisen. Die rauschen später im Hintergrund vorbei, von Postkolonialismus über Postfeminismus, Postdemokratie und Postkapitalismus bis zu Postautonomie.
Aber immerhin: Wenn Mariel Jana Supka in der Rolle der Petra mal eine Vision ausprobiert und sich den postnationalen Europäer ausmalt, mehrsprachig auf jeden Fall, und nicht beunruhigt von der Unabgeschlossenheit seiner Suche nach Identität, dann könnte man das Team des Büros schon mal ganz gut an diese Stelle setzen. Sie sind Musiker und Schauspieler, reden und singen auf Deutsch, Englisch, Spanisch, haben in ein bis zwei Ländern studiert und auf Bühnen vieler Länder gestanden. Allerdings haben alle, dieser Heterogenität zum Trotz, grauhaarige Perücken übergestülpt und tanzen gelegentlich wie mechanische Puppen, ein Vorgriff auf die Prägung als Büroangestellte.
Eine Koproduktion
Die Texte, in Koproduktion der Neuköllner Oper mit einem Theater und einem Festival aus Barcelona entstanden, stammen von dem deutschen Autor Tilman Rammstedt und dem katalanischen Dramatiker Marc Rosich. Sie stellen in Dialogen, Songs und Monologen überraschende Bezüge her zwischen politischen Entwicklungen und privaten Verhaltensweisen. Was bleibt von Identitäten, wenn man versucht, nationale, religiöse, ethnische und kulturelle Zuschreibungen hinter sich zu lassen? Denn sie beinhalten immer auch ausschließende Grenzen und sind Auslöser für viele kriegerische Konflikte. Der Facebook-Account? Ein Flachbildschirm? Ein stündliches Foto zur Selbstvergewisserung?
Aus unterschiedlichen Perspektiven pieksen die Szenen in das Konstrukt Identität. Mit prolliger Berliner Schnauze erzählt Bärbel Schwarz von einem unheimlichen Fund: das Fotoalbum ihrer Großmutter. Diese hatte aus allen Bildern das eigene Gesicht herausgeschnitten. Es blieb nur ein Loch, erschreckend für die, die ihr face täglich an Freunde verschicken. David Luque markiert den alerten Boss einer Firma von Kreativen, der eine Mitarbeiterin zurechtstutzt, die sich eben nicht mit Haut und Haaren dem Firmenziel verschreibt. Am Ende stempelt er sie gar zu einer Terroristin. Mariel Jana Supka kämpft mit der Definition von invasiven Arten, einem biologistischen Nebenschauplatz im Gerangel um territoriale Zugehörigkeit. Und Panagiotis Iliopoulos, der geniale Pianist der Produktion, doziert über Beethoven, dessen „Freude schöner Götterfunken“ zur Europa-Hymne wurde. Der Pianist aber zieht eine Klaviersonate aus dem Spätwerk vor, Opus 111, in der er das Zerbröseln des Heroischen und Euphorischen ins Fragmentarische erkennt und dies dem Publikum zu Gehör bringt.
Dass eben nicht nur auf sprachlicher Ebene, sondern auch musikalisch argumentiert wird, dass Text und Bilder nicht kongruent geführt werden und der körperliche Slapstick den bemühten Worten manchmal voraus ist, macht das „Büro für postidentisches Leben“ zu einem unterhaltsamen Stück. Musik und Choreografie halten das Kaleidoskop der durchaus nicht immer leicht verständlichen Texte in dieser Inszenierung von Matthias Rebstock gut zusammen. Katrin Bettina Müller
Wieder 22. bis 25. 9. und 29. 9. bis 1. 10., jeweils 20 Uhr in der Neuköllner Oper
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