piwik no script img

Proteste in ÄthiopienTödliches Erntedankfest

52 oder 678 Tote? Wie viele Opfer der Militäreinsatz in Äthiopien gegen ein Fest der Oromo forderte, ist unklar. Das facht die Proteste neu an.

Sonntag: Äthiopische Soldaten halten die Menge beim Erntedankfest in Schach Foto: ap

BERLIN taz | Erneut sind in Äthiopien zahlreiche Menschen bei einer Konfrontation mit der Armee gestorben, und erneut ist der Hergang unklar. Was in Bishoftu südlich der Hauptstadt Addis Abeba beim traditionellen Erntedankfest der Oromo-Volksgruppe am Sonntag geschah, ist geeignet, die ohnehin großen Spannungen in Äthiopien weiter zu schüren.

Radikale Oppositionelle wittern bereits das Ende der Regierung, die seit 1991 im Kern aus ehemaligen Rebellen der Tigray-Volksgruppe besteht und von Wortführern der anderen großen Ethnien, Oromo und Amhara, abgelehnt wird.

678 Tote meldet die Oromo-Oppositionspartei OFC (Oromo Federalist Congress) als Ergebnis einer tödlichen Massenpanik, die nach Überzeugung der Opposition durch Schüsse von Sicherheitskräften auf feiernde und betende Menschenmengen ausgelöst wurde.

Auf Videofilmen, die im Internet kursieren, sind unüberschaubare Menschenmengen zu sehen, die schreiend durcheinanderlaufen. Zehntausende von Menschen nahmen an dem jährlichen Erntedankfest teil.

Seit fast einem Jahr im Aufruhr

Teile der von Oromos und Amharen besiedelten Regionen Äthiopien sind seit fast einem Jahr gegen die Zentralregierung in Aufruhr. Was als lokale Empörung über staatliche Landnahme begann, hat sich in den letzten Monaten zu einer koordinierten Protestbewegung ausgeweitet, die den Sturz der Regierung will.

Anfang August wurden bei der Niederschlagung von Massenprotesten in mehreren Städten über hundert Menschen getötet.

Die Armee sperrte alle Fluchtwege ab und begann, auf die Menge zu schießen

Aussage eines Überlebenden

Damals breitete sich auch die populäre Protestgeste von zwei über dem Kopf gekreuzten Handgelenken als Symbol des gewaltfreien Widerstandes aus – weltweit bekannt machte sie der äthiopische Silbermedaillengewinner des Marathonlaufs bei den Olympischen Spielen in Rio.

Beim Erntedankfest Irreecha in Bishoftu sollen Feiernde mit dieser Geste darauf reagiert haben, dass sie Oromo-Würdenträger auf der staatlichen Ehrentribüne entdeckten, was sie als Verrat empfanden.

„Woyane!“ (Nieder!) sollen sie gerufen haben – ein alter Slogan aus Äthiopiens Widerstand gegen italienische Besatzung und später die Revolutionsparole der Tigray-Rebellen, die jetzt gegen das Regime selbst gewendet wird.

Drei Tage Staatstrauer

„Die Armee sperrte mit Fahrzeugen alle Fluchtwege ab und begann, auf die Menge zu schießen“, heißt es in einem Augenzeugenbericht vom Sonntag. „Weil es keinen Ausweg gab, drängten die Leute panisch aufeinander. Manche fielen in einen Graben. In diesem Moment schoss die Polizei Tränengas in den Graben. Wir erstickten fast. Ich konnte mich an Baumwurzeln heraushieven, aber viele sind gestorben.“

Offiziell gab es 52 Tote, Opfer der „Massenpanik“ in dem tiefen Graben. Die Regierung hat drei Tage Staatstrauer ausgerufen und stellt alles als einen „tragischen“ Unfall dar. Oppositionelle führen die „Massenpanik“ auf die Schüsse zurück und sagen, es gebe viel mehr Opfer; sie haben zu fünf „Tagen des Zorns“ aufgerufen.

Im Todesgraben von Bishoftu: Bergung eines Verletzten durch die Armee Foto: ap

Der Chef des städtischen Krankenhauses von Bishoftu sagte im Staatsrundfunk, er allein habe 55 Leichen angeliefert bekommen. Überlebende aus dem Graben werden mit der Aussage zitiert, es hätten sich darin um die 500 Menschen befunden, von denen die wenigsten überlebt hätten.

Proteste flammen neu auf

Nun flammen die Proteste im zentraläthiopischen Hochland neu auf. Es sollen in mehreren Orten öffentliche Gebäude in Flammen aufgegangen sein.

Gebrannt hat Berichten zufolge auch Gerät in der Zementfabrik des nigerianischen Milliardärs Aliko Dangote, einer der größten Industriebetriebe Äthiopiens mit einer Jahreskapazität von 2,5 Millionen Tonnen Zement, der nach ganz Ostafrika exportiert wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!