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Das Leben nach dem Tod

Champions League Atlético Madrid, heute Gegner der Bayern, arbeitet sich noch immer an der Finalpleite vom Mai ab. Trainer-Guru Simeone führt das Team wie eine Sekte

aus madrid Florian Haupt

Wer Diego Simeone im Mai nach dem verlorenen Cham­pions-League-Drama gegen Real Madrid erlebte, wird diese Minuten wohl nie vergessen. Im Weltfußball kann es selten düsterer zugegangen sein. Gewohnt schwarz gekleidet, erging sich der Trainerguru von Atlético Madrid in finsteren Analysen und Andeutungen über einen möglichen Rücktritt. Wollte er neue Spieler erbetteln? Von seiner ängstlichen Taktik ablenken? Oder war der Schmerz selbst für diesen hypervirilen Anführer zu groß?

Wohl alles ein bisschen. „Diese Niederlage war für mich wie ein Tod, und jeder Tod braucht eine Trauerzeit“, sagte Simeone, als er sich Monate später erklärte – weiterhin im Amt. Vorangegangen war Überzeugungsarbeit im Hintergrund, eine Reise der Klubchefs in seine argentinische Heimat und nicht zuletzt die Ankündigung, ihn nicht aus seinem Vertrag zu entlassen. Atlético wechselt nach 50 Jahren im charmant-gammeligen Estadio Vicente Calderón zur nächsten Saison in eine handelsübliche Fünfsternearena am Stadtrand. Um die Gemeinde ohne Identitätsverlust zu überführen, braucht es ihren Hohepriester umso mehr. Danach hätte Simeone seine Schuldigkeit getan, als entsprechende Geste wurde sein Vertrag in einem kuriosen Prozedere um zwei Jahre verkürzt: er läuft jetzt nur noch bis 2018. Eine Gehaltserhöhung gab es trotzdem. Neue Spieler auch: Mittelstürmer Kevin Gameiro (von Sevilla) und Linksaußen Nico Gaitán (Benfica) erhöhen die Angriffsvarianten der defensiv kaum zu verbessernden Elf.

„Alles ist gut“, beruhigte „El Cholo“, und so kann heute auch Bayern München kommen, als ideale Zwischenetappe der Traumaverarbeitung. Die Deutschen bringen ja positive Erinnerungen, das elektrische Halbfinale der Vorsaison, das Atlético knapp für sich entschied (1:0, 1:2). Nach dem Schlusspfiff dankte Simeone damals persönlich den Profis, dass sie seinen intensiven Arbeitsrhythmus nun schon so lange mitgingen.

Der Trainer – auch daher sein Rücktrittsflirt – mag nach viereinhalb Jahren eine gewisse Abnutzung seiner Methoden befürchten: Doch die Spieler scheinen gar nicht genug von ihm kriegen zu können. Antoine Griezmann, der EM-Torschützenkönig und Deutschland-Schreck, koppelte gar seinen Verbleib an den Simeones. „Ich hatte Angst, dass er gehen würde“, berichtete der Angreifer über die Unsicherheit des Frühsommers. Also griff er zum Telefonhörer, gegenseitig versicherte man sich die Treue, Simeone war gerührt und Griezmann verlängerte seinen Vertrag. Spieler wie er spüren, dass sich bei Atlético ein seltenes Gesamtkunstwerk zusammengefügt hat, das ihnen die Chancen auf maximale Entfaltung und große Titel gibt. Dafür verzichten viele auch auf bessere Verträge bei reicheren Rivalen. „Simeone schafft es, an seiner Seite nicht nur einfache Fußballer zu haben, sondern echte Soldaten, die für ihn in den Krieg ziehen würden“, sagt Griezmann.

„Diese Niederlage war für mich wie ein Tod“

Atlético-Trainer Diego Simeone

Der Glaube ist also zurück, und mit ihm diese spezielle Atlético-Mystik. „Es wird etwas Wichtiges passieren im letzten Jahr des Calderón“, orakelt der fahle Rechtsverteidiger Juanfran. Letztlich ist Atlético einfach zurück in seiner Lieblingsrolle des Sisyphos, der alles Leid erduldet und nie unterzukriegen ist. Wo schon die letzte Saison als Vendetta für das zwei Jahre zuvor ebenfalls gegen Real verlorene Finale zelebriert wurde, bedeutet die erneute Tragödie nun einen noch härteren Test – der dafür eine umso goldenere Apotheose verspricht. „Wenn es für Simeone der Tod war, was soll ich dann sagen?“, argumentiert Juanfran, der im Mai den entscheidenden Elfmeter verschoss. „Ich bin überzeugt davon, dass wir mit Si­meone noch die Champions League gewinnen.“

Fürs Erste reicht es in der Liga schon wieder zu Platz drei, zwei Punkte hinter Tabellenführer Real. Griezmann hat offenbar auch die zweite Enttäuschung, die des verlorenen EM-Finales, gut überwunden, er führt die Torschützenliste an. Und zumindest in Heimspielen gegen schwächere Gegner schickt Simeone neuerdings ein regelrechtes Offensivbataillon mit bis zu vier Angreifern auf den Platz. „Wir sind eine bessere Mannschaft (als vorige Saison, d. Red.), ohne jeden Zweifel“, sagte er, nachdem sein Team vorige Woche beim FC Barcelona ein Remis erstritten hatte, allerdings nach altbekanntem Drehbuch: grätschen, kontern und zehn Meter zurück, anstatt in der Schlussphase auf den Sieg zu spielen. Um sich wirklich zu wandeln, sind Atlético und Simeone dann eben doch viel zu glücklich mit sich.

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