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Die Erotikdes Orients

Lesung Beim Internationalen Literaturfestival Berlin stellte Mathias Énard seinen Roman „Kompass“ vor

Der preisgekrönte Romanautor Mathias Énard (l.) beschwört das Miteinander von Morgen- und Abendland Foto: Hartwig Klappert

Von Jens Uthoff

Im Garten des Hauses der Berliner Festspiele herrscht am Samstagabend flauschige Sommerfestatmosphäre. Die Besucher des Internationalen Literaturfestivals Berlin (ilb) sitzen unter von Strahlern beleuchteten Bäumen zwischen den Veranstaltungen bei einem Glas Wein beieinander; das milde Klima meint es gut mit der 16. Auflage des bedeutendsten Literatur-Events der Hauptstadt.

Für Gesprächsstoff ist gesorgt. Kurz zuvor stellte der französische Autor Mathias Énard seinen kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman „Kompass“ im fast voll besetzten Saal der Seitenbühne vor. „Kompass“ (Frz. Boussole) war einer der wichtigsten französischsprachigen Romane des vergangenen Jahres und wurde mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

In einer Gedankenreise seines Protagonisten, des Musikwissenschaftlers Franz Ritter, rollt Énard darin die historisch-kulturellen Verflechtungen zwischen Okzident und Orient auf; zugleich wird die Liebesgeschichte von Franz und der Orientalistin Sarah erzählt. Locker und gewitzt zeigt sich der 44-jährige Franzose, der mit seinen langsam weniger werdenden krausen Locken und seinem großen, offenen Gesicht etwas Gemütlich-Gelehrtes ausstrahlt, im Gespräch mit FAS-Redakteurin Julia Encke, mit der er sich die meiste Zeit auf Deutsch unterhält.

Énard, der sich 2010 in dem gefeierten Bewusstseinsstrom-Roman „Zone“ den Kriegen des 20. Jahrhunderts widmete, sieht sein aktuelles Buch als „Liebesgeschichte des Westens mit dem Orient“, denn in der Liaison zwischen Franz und Sarah habe das kulturelle Wissen der beiden auch eine erotische Komponente.

„Kompass“, das Christian Brückner in der deutschen Übersetzung im archetypischen Brückner-Sound liest, spielt eigentlich in einer einzigen Nacht in Wien: Dort verbringt Protagonist Franz eine schlaflose Nacht, nachdem er am Tage von einer schweren Krankheit erfahren hat. Während er nicht schlafen kann, durchreist er in seiner Erinnerung Städte, die er mit seiner früheren Freundin Sarah besucht hat: Istanbul, Palmyra, Damaskus und weitere Orte in Syrien. Historischen Szenen stellt Énard die Jetztzeit in Syrien gegenüber, in der sich die „makabre Farce des Islam mit den schwarzen Fahnen“ zeigt, wie er es ausdrückt.

Weil Énard den Krieg in Syrien, den IS-Terror und das westliche Bild von der Region behandelt, könnte „Kompass“ auch hier zu den viel diskutierten Werken der Saison werden. Interessant an der Debatte im Anschluss an die Lesung ist vor allem der Vergleich mit Houellebecqs „Unterwerfung“ und Boualem Sansals „2084 – das Ende der Welt“; beides ebenfalls 2015 erschienene dystopische Erzählungen, in deren Handlung der (islamische) Fundamentalismus die Macht übernimmt.

Der Autor gibt sich unerschütterlich optimistisch und zitiert unter Gelächter Angela Merkel

Als Encke danach fragt, warum er im Gegensatz zu Houellebecq und Sansal den Blick in die Vergangenheit gerichtet habe, nennt Énard vor allem den west-östlichen Kulturtransfer als Grund: „Auch in westlichen Kulturen steckt etwas vom Orient, wir haben uns immer ausgetauscht“, sagt er. „Schopenhauer hat sich zum Beispiel von der indischen Kultur und vom Buddhismus inspirieren lassen. Oder man denke auch an Goethes ‚West-östlichen Divan‘.“

Ob Énard angesichts der erkalteten Liebesgeschichte des Westens mit dem Orient eine positivere Vision zeichne, will Encke wissen. Der Autor gibt sich in der Tat unerschütterlich optimistisch und zitiert gleich mal unwillentlich und unter Gelächter Angela Merkel: „Trotz aller extremistischer Positionen, die wir gerade überall beobachten: Wir werden es schaffen. Als Erstes muss es Frieden in Syrien geben.“ Woher Énard seinen Optimismus bezüglich der Situation in Syrien nimmt, wird nicht mehr erörtert.

Aber der Abend soll eher im Zeichen des reichhaltigen morgenländischen Schatzes stehen, der den alten Kontinent kulturell beeinflusste; und damit auch um die beeindruckende Bildungsreise, die in Énards Buch steckt. Und das, um einen weiteren Politiker zu zitieren, ist dann auch gut so.

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