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Das Scheitern der WachstumsideologieHöher, schneller, weiter

Kommentar von Matthias Schmelzer

Wirtschaftswachstum gab es nicht immer. Wie konnte es also zur mächtigsten Rechtfertigungsideologie des Kapitalismus werden?

Will auch hoch hinaus Foto: imago/Westend61

W enn sich in gut einer Woche die Regierungschefs der ökonomisch mächtigsten Staaten der Welt zum G-20-Gipfel im chinesischen Hangzhou treffen, heißt es wieder: Wachstum über alles! Bereits auf dem Vorbereitungstreffen Anfang August beschwerten sich Finanzminister und Zentralbankchefs, seit der Weltwirtschaftskrise vor sieben Jahren sei geringes globales Wachstum zur „neuen Normalität“ geworden. Wie auch in den letzten Jahren hoffen Regierungen und Unternehmen weltweit, dass der Gipfel die Bedingungen für wirtschaftliche Expansion und damit für mehr Wohlstand, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit schafft.

Doch diese Versprechen verlieren zunehmend an Glaubwürdigkeit. Die Fokussierung auf ein kontinuierliches Ansteigen des Bruttoinlandsprodukts, die im Zentrum der Religion des „Höher, schneller, weiter“ der expansiven Moderne steht, gerät in die Kritik. Denn unabhängige Analysen zeigen: Von Wachstum profitieren vor allem die Reichsten, Ungleichheit nimmt zu, die ökologische Tragfähigkeit des Planeten ist längst überschritten, und die Wachstumsraten sinken kontinuierlich; manche reden gar von langfristiger Stagnation.

Die Wachstumsidee erlebt eine ideologische Krise. Nichtsdestotrotz sind die G 20 mit ihrer Forderung nicht allein: Die politische und gesellschaftliche Fokussierung auf Wirtschaftswachstum als Allheilmittel und als universeller Maßstab für Fortschritt, Modernität und Entwicklung ist ungebrochen. Wie kann es sein, dass trotz prominenter Kritik und zunehmender gesellschaftlicher Skepsis Regierungen und internationale Organisationen weiter auf Wachstum setzen? Um dies zu verstehen, lohnt der Blick in die Geschichte.

Fortschritt mit kontinuierlicher Expansion gleichgesetzt

Wirtschaftswachstum erscheint so selbstverständlich, dass leicht vergessen wird, dass nicht nur die Realität ökonomischer Expansion, sondern auch Wachstumsdiskurse erstaunlich neue Phänomene sind. Relevante Wachstumsraten gab es erst seit der kapitalistischen und auf fossilen Brennstoffen basierenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert.

Die Konzentration auf Wachstum im modernen Sinne setzte sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts durch. Die internationale Standardisierung der Statistiken, die das Bruttoinlandsprodukt definieren, ermöglichte seit den 1940er Jahren eine über Zeit und Raum vergleichbare und einheitliche Konzeption „der Wirtschaft“. Dadurch wurde überhaupt erst messbar, was wachsen sollte: die Summe der Markttransaktionen im Rahmen nationalstaatlicher Grenzen.

Danach erst setzte sich die Idee durch, dass langfristiges, stabiles und unbegrenztes Wachstum überhaupt möglich sei. Wirtschaftlicher Fortschritt– oder gesellschaftlicher Fortschritt ­generell – wurde mit kontinuier­licher Expansion von Markttransaktionen gleichgesetzt.

Noch in den politischen Diskus­sionen der unmittelbaren Nachkriegszeit war die Idee des Wirtschaftswachstums auffällig abwesend, zentrale Interessen waren Vollbeschäftigung, Stabilität und Wiederaufbau. Doch in den folgenden Jahren wurde Wachstum im Kontext von Dekolonialisierung und Kaltem Krieg an die Spitze der Politikziele katapultiert. Und es dauerte nicht lange, bis spätestens ab Mitte der 1950er Jahre ökonomische Expansion nicht nur in den kapitalistischen Industrieländern zum global akzeptierten Maßstab des Fortschritts wurde.

Nationalstaaten und politische Systeme traten nicht in Bezug auf Gleichheit, Emanzipation oder Arbeitsplätze in einen Wettbewerb, sondern in Bezug auf die Quantität von Gütern und Dienstleistungen, die ein Land produzieren konnte. Symptomatisch für die politische Fokussierung auf Wachstum in dieser Zeit war das Proklamieren offizieller Wachstumsziele.

Vorstellung, dass alle vom Kuchen profitieren können

Die bekanntesten wurden in der Sowjetunion verabschiedet. Nikita Chruschtschow erklärte beispielsweise 1958: „Wachstum der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion ist der Rammbock, mit dem wir das kapitalistische System zerschlagen werden.“ Aber nicht nur planwirtschaftliche Länder proklamierten ihre politischen Ziele als numerische Wachstumsziele. Auf dem ersten Ministerratstreffen der OECD im November 1961 verabschiedete die Wirtschaftsorganisation das berühmteste westliche Wachstumsziel: Das Bruttosozialprodukt der OECD-Länder sollte innerhalb von 10 Jahren um 50 Prozent wachsen.

Dies symbolisierte die vorherrschende Vision von menschlichem Fortschritt der Zeit. Die OECD wurde von einem hochrangigen Direktor recht treffend als „Wachs­tums­tempel der Industrieländer“ beschrieben, in dem „Wachstum um des Wachstums willen das höchste und unhinterfragbare Ziel“ war. Komplexe gesellschaftliche Probleme – von der Bildungs- über die Geschlechter- bis zur Entwicklungspolitik – wurden dadurch auf ökonomische Gesichtspunkte reduziert, weitere Dimensionen missachtet.

Matthias Schmelzer

... ist Mitarbeiter beim Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig und Permanent Fellow am DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Universität Jena. Er ist seit Jahren in der globalisierungs- und wachstumskritischen Szene aktiv.

2016 erschien sein Buch The Hege­mony of Growth. The OECD and the Making of the Economic Growth Paradigm (Cambridge University Press), das u. a. mit einem Preis der International Economic History Association ausgezeichnet wurde.

Dem Wachstumsparadigma kam so in den Nachkriegsjahrzehnten eine Schlüsselrolle zu: Die Verteilungsfrage wurde durch Wachstumspolitik verdrängt, und soziale Konflikte wurden als technische Pro­bleme behandelt, die – so die Annahme – von Wirtschaftsexperten gelöst werden können. Die Wachstums­ideologie schuf die Vorstellung, dass alle von dem wachsenden Kuchen profitieren können, und machte Wachstum so zum Allgemeininteresse.

Dass dies mehr Ideologie als Realität ist, wird kritisiert, seit es das Wachstumsparadigma gibt. Besonders in den späten 60er und 70er Jahren gab es eine ausgesprochen breite gesellschaftliche Diskussion über die sozialen und ökologischen Kosten der Wachstumsfixierung. Nachdem diese Kritik durch die Vorstellung „nachhaltigen Wachstums“ und eine Welle neoliberaler Marktradikalität an den Rand gedrängt wurde, erlebt sie seit der Weltwirtschaftskrise 2008 eine neue Konjunktur.

Unter dem Stichwort „Degrowth“, das sich mehr schlecht als recht mit „Wachstumsrücknahme“ oder „Postwachstum“ übersetzen lässt, wurde sie aktualisiert und zugespitzt. Die Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, das Wachstumsparadigma und das dadurch legitimierte Wirtschafts- und Konsummodell – das „growthocene“ – zu überwinden. Stattdessen sucht man Alternativen.

Es reicht nicht, auf Wachstum zu setzen

Wachstum ist in modernen Gesellschaften zur vielleicht mächtigsten Rechtfertigungsideologie des Kapitalismus geworden. Wie bei anderen Ideologien auch geht es im Kern um die imaginäre Lösung realer gesellschaftlicher Konflikte. Nicht nur Ungleichheiten – wie sie jüngst von Thomas Piketty und anderen veranschaulicht wurden – und die Auseinanderentwicklung von reichen und armen Ländern werden als vorübergehende Phänomene gerechtfertigt, die durch mehr Wachstum in der Zukunft überwunden werden sollen.

Auch andere soziale Spaltungen wie die auf der Basis von Rassismus und Sexismus werden damit als wirtschaftlich behebbar dargestellt. Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, künftige Lohnsteigerungen und unternehmerischer Erfolg für alle werden es schon irgendwann richten, so die dadurch gestützte Vorstellung.

Doch angesichts von Klimawandel, Begrenztheit der Ressourcen und anhaltenden Stagnationstendenzen erweist sich dieser Glaube als utopisch. Infolge von Finanzialisierung und zunehmender Ungleichheit profitieren in den Indus­trie­ländern von mehr Wachstum schon seit Jahrzehnten vor allem Unternehmen und die Reichen.

Denn Wachstum misst nicht Wohlfahrt, sondern die Zunahme von Markt­trans­ak­tio­nen – und diese sind die Basis für unternehmerische Gewinne. Die Interessen weniger werden somit als Allgemeininteresse dargestellt. Um die realen gesellschaftlichen Konflikte zu lösen, reicht es also nicht, auf mehr Wachstum zu setzen. Es müssen andere Wege erforscht, ausprobiert und gegangen werden.

Es ist wohl Zufall, dass fast zeitgleich mit dem G-20-Gipfel die 5. Internationale Degrowth-Konferenz in Budapest stattfindet, wo genau dies geschieht. Während die einen versuchen, das angeschlagene Wachstumsmodell trotz vielfältiger Krisenphänomene am Leben zu erhalten, entwickeln die anderen bereits konkrete Utopien für ein gutes Leben aller, das nicht von Wachstum abhängt ist. Die Ideen reichen vom Ausprobieren alternativer Lebensweisen in Gemeinschaftsgärten und Reparaturwerkstätten über verschiedenste Protestformen bis zur wissenschaftlichen Analyse nicht wachstumsbasierter Wirtschaftsformen.

Auch wenn man sich hier noch am Anfang befindet: Wirtschaftswachstum gab es nicht immer, und über kurz oder lang wird es an sein Ende kommen. Es ist höchste Zeit, sich über die Zeit danach Gedanken zu machen.

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5 Kommentare

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  • Seit es das hier kritisierte Konzept des weltweiten Wirtschaftswachstums gibt ist die Zahl der Menschen auf dieser Erde von 2 auf 7(!) Milliarden Menschen gestiegen und gleichzeitig haben Armut und Hunger absolut wie relativ abgenommen.

    Heutzutage leben mehr Menschen in Wohlstand als es 1952 überhaupt Einwohner auf diesem Planeten gab.

  • "Wachstum" ist die Ideologie der Wahnsinnigen, welche die Endlichkeit dieser Kugel nicht wahrhaben wollen - oder der Zyniker, die höchstens noch an das Wohl ihrer (reich erbenden) Kinder, aber keine Sekunde weiterdenken. Also: "Mir soll es bei diesem Wahnsinn wenigstens gutgehen, auch noch meinen Kindern [in ihrer Verblendung mögen diese Zyniker glauben: auch noch den Kindeskindern] - der Rest der Menschheit ist mir egal." Sie haben es geschafft, diese verbrecherische Haltung noch im Kleinbürgertum, selbst im Proletariat zu verankern. Wenn ich mich umsehe unter Kollegen, Bekannten: sie denken alle, ihr Wohlstand - z.B. sowas wie Haus-, Auto- und Smartphone-Besitz - sei eine Art unveräußerliches Menschenrecht, das ihnen (wahlweise) qua eigener Tüchtigkeit, Geburt, Nationalität oder gar Rasse zustünde. Sie sagen: "Sollen die anderen Habenichtse auf der Welt doch zusehen - wir haben hart geschuftet für unseren Wohlstand!" und ähnlichen Quatsch. Verstehen nicht, daß eine egalitär lebende Gruppe von "Urmenschen", deren Umwelt intakt ist, so daß sie nicht hungern müssen - glücklicher und besser dran ist, als sie, die so viel schon haben und nie zufrieden sind. (Wer meine Kommentare kennt, weiß, daß ich nicht für Fortführung der Armut, sondern Abschaffung des Reichtums plädiere.)

  • Lieber @Alleswisser (na, Sie müssen's ja wissen ...): doch, doch, ich will es schon noch wissen und gucke gern in die Schriften des 19. Jahrhunderts, in denen sich bereits alles entfaltet, was uns heute beherrscht. Und Marx ist einer der wichtigsten Autoren dabei (neben Engels, Proudhon, Kropotkin, Reclus, Louise Michel ... waren so viele brillante Köpfe dabei ...).

  • Wenn man es will, dann kann man über dieses Thema Jahrhunderte lang diskutieren.

     

    Man kann sich aber auch ganz einfach klar machen, daß die wahre Aussage "einige wollen auf Kosten aller anderer so reich wie irgend möglich werden" nicht gut angekommen wäre.

     

    Deshalb war ein Scheinargument nötig, das kompliziert genug ist, um von der Mehrheit nicht mehr verstanden zu werden, ungeachtet der Tatsache, daß enthaltene Unlogik nie als Logik verstanden werden kann.

  • ...steht alles schon bei Karl Marx aus dem 19. Jahrhundert. ...ist immer noch aktuell. ...will bloss niemand mehr wissen.