piwik no script img

Free-Jazz-Saxofonist Mats GustafssonKontrolle, um alles zu geben

Der Saxofonist Mats Gustafsson ist uner­müdlich unterwegs. Beim A l’arme! Festival in Berlin präsentiert er zwei seiner wichtigsten Bands.

„Luft“ heißt eines der zahlreichen Projekte von Mats Gustafsson (links) Foto: Micke Keysendal

Mats Gustafsson kommt der Frage nach seinen zentralen künstlerischen Kollaborationen charmant zuvor: „Es sind einfach so viele“, seufzt der Saxofonist mit einem Lachen am Telefon im österreichischen Nickelsdorf, nahe der ungarischen Grenze, wo der gebürtige Schwede seit ein paar Jahren mit Familie lebt. „Es ist gut, aus vergangenen Projekten zu lernen, aber ich schaue lieber nach vorn. Ich bin jedes Mal gespannt darauf, was als nächstes kommt.“

Gustafssons Wirken ist durchaus episch zu nennen, er selbst setzt die Anzahl seiner Konzerte rund um den Globus mit 1.800 eher zu niedrig an, er hat über 200 Einspielungen auf zahlreichen Labels veröffentlicht, mit Dutzenden klingenden Namen von Neneh Cherry bis Thurston Moore, von Otomo Yoshihide bis Sven-Åke Johansson. Der 51-Jährige ist unermüdlich auf Tour, allein in diesem Jahr war er bereits in Australien und Neuseeland, in den USA, Italien, Frankreich und immer wieder in Skandinavien unterwegs.

Beim Festival „A l’arme!“ in Berlin gastiert er mit zwei seiner wichtigsten Projekte, auf dem Programm steht mit Peter Brötzmann aber auch ein anderer langjähriger Weggefährte Gustafssons. Das Fire! Trio mit dem Bassisten Johan Berthling und dem Schlagzeuger Andreas Werliin spielt heute am Eröffnungsabend. Es ist neben The Thing die jüngere Working Band Gustafssons und seit 2009 aktiv, der Gitarrist Oren Ambarchi ist seit 2011 der Vierte im Bunde.

„Er gibt uns ein Gefühl von Unsicherheit und gerade das mögen wir“, erklärt Gustafsson. „Mit ihm weiß ich nie, was im Konzert passieren wird, er verändert die Richtung der Musik im Nu. Er hat eine unglaubliche Kontrolle über seine massiven Sounds und reagiert in Improvisationen sehr schnell.“

Die Aufritte

Fire! & Oren Ambarchi, 27. 7., Berghain, Berlin; 28. 7., Radialsystem, Berlin

Seval, Trondheim Jazz Orchestra, 29. 7.; Anna Högberg Attack!, 30. 7., beide im Radialsystem

Um augenblicklich reagieren zu können, sei extreme Technik auf dem Instrument erforderlich, meint Gustafsson. „Sonst hast du keine Wahl und der Moment ist vorüber. Das überträgt sich auf die Musik und das Publikum. Deshalb liebe ich es, zu üben und nach neuen Sounds zu forschen. Nur wenn ich mein Instrument bestmöglich beherrsche, kann ich mit den anderen kommunizieren. Es kommt vor, dass ich nach Konzerten fast ohnmächtig werde oder Brechreiz habe, weil es mich physisch so fordert. Ich kann aber nicht anders, als alles zu geben, auch wenn das wie ein Klischee klingt.“

Hauptinstrumente Tenor- und Baritonsaxofon

Seine Hauptinstrumente Tenor- und Baritonsaxofon beginnt Gustafsson mit 19 zu spielen. Vorher lässt er dem Krach auf verzerrten Fender Rhodes in diversen Punkbands in seiner Heimatstadt Umeå freien Lauf. In Stockholm heftet er sich an die Fersen des eigenwilligen Saxofonisten Bengt Nordström, ein Free-Jazz-Pionier Skandinaviens, der mit seinem radikalen Schneid und rückhaltlosen Wirken ein Vorbild für Gustafsson ist. Auf Einladung des Journalisten und Veranstalters John Corbett reist er 1994 nach Chicago und ist überwältigt.

„Die Stadt war ein kreatives Epizentrum, mit den Musikern der AACM, Tortoise, Ken Vandermark oder Jim O’Rourke. Zwischen Rock und Free Jazz gab es keine Grenzen. Und es gab eine Menge Macher, die selbst Konzerte organisierten und Alben produzierten.“ Den kuratorischen Scharfsinn lernt Gustafsson von Vandermark, seither ist ihm wichtig, MusikerInnen mit Festivals Plattformen für den Austausch zu bieten. 2010 war er Gastkurator der Konfrontationen Nickelsdorf, die ihr Gründer Hans Falb seit 1980 zu einem der bedeutendsten Festivals für improvisierte Musik in Europa entwickelt hat.

Auf dem Météo Festival im französischen Mulhouse hörte Gustafsson vor drei Jahren den Dudelsackspieler Erwan ­Kera­vec und schlug ihm vor, ein Duo zu gründen. Unter dem Namen Luft verwirbeln die beiden ihren Atem nun auch beim A l’arme! Festival.

Gustafssons Orchesterschmiede

Die Sängerin Sofia Jernberg, der Gitarrist David Stackenäs und der Trompeter Emil Strandberg spielen in Gustafssons Fire! Orchestra, bei A l’arme treten sie aber mit der Band Seval des Chicagoer Cellisten Fred Lonberg-Holm auf. Aus Gustafssons Orchesterschmiede stammt auch die Altsaxofonistin Mette Rasmussen, die mit dem Trondheim Jazz Orchestra zu erleben sein wird, ebenso wie die Saxofonistinnen Anna Högberg, Elin Larsson und Malin Wättring, die mit Högbergs Band Attack! auftreten.

Nach dieser turbulenten Saison wird Mats Gustafsson mehr Zeit in Stockholm verbringen, gemeinsam mit dem Saxofon-Spezialisten Kenneth Schlaich entwickelt er ein ganz neues Instrument. Und arbeitet mit Fire! an einer Theaterproduktion, die Anfang 2017 Premiere feiern wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen