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Die WahrheitÜbernahme der Wut

Kolumne
von Eugen Egner

Auf der Spur von dunklen Familiengeheimnissen gerät Poet Golch in einen immer tieferen Strudel von, ja von was eigentlich?

E in Dichter namens Golch wusste vor materieller Not nicht mehr, wie es weitergehen sollte. In einer der Nächte, die er schlaflos am Abgrund der Verzweiflung zubrachte, erschien ihm seine seit vielen Jahren tote Mutter. Sie teilte ihm mit, er solle Inhaber des Wut-Verlags werden, der ihrem Vater gehörte.

Das überraschte Golch, denn sein Großvater mütterlicherseits wäre der Letzte gewesen, dem er je unterstellt hätte, in irgendeiner Weise mit so etwas wie einem Verlag zu tun zu haben. Ungeachtet dessen brachte ihm seine Mutter Straße und Hausnummer zur Kenntnis und fügte hinzu, man erwarte ihn. Dann löste sie sich auf.

Golch war desperat genug, um nach allem zu greifen, was Rettung versprach. Am folgenden Tag fuhr er daher in die Stadt und suchte die genannte Adresse auf. Tatsächlich gab es dort, in der zweiten Etage eines großen Gebäudes, einen Wut-Verlag. Als Golch sich am Empfang vorstellte, brachte man ihn sofort zur Geschäftsführerin. Deren Anblick erstaunte ihn, denn die Frau hätte seine Schwester sein können. Golch wollte etwas äußern, doch sie bedeutete ihm zu schweigen. Über gewisse Dinge dürfe nie gesprochen werden, sagte sie.

Mit der größten Selbstverständlichkeit reichte sie ihm sodann etwas in Alufolie Gewickeltes. Es hatte ungefähr die Maße eines dicken Taschenbuchs, war aber weicher und fühlte sich auffallend warm an. Golch erhielt den Auftrag, es zu einem bestimmten, ein paar Straßen entfernten Abfallbehälter zu bringen. Weil er das für ein notwendiges Ritual hielt, verließ er mit dem weichen, warmen Paket die Geschäftsräume.

Im Parterre traf Golch bei der gläsernen Eingangstür auf eine fremdartig aussehende Person. Sie war anscheinend männlichen Geschlechts und sehr dunkel, doch stellenweise – vor allem am Kopf – mit gelbem Puder beschichtet. Verunsichert fragte er den deplatziert wirkenden Fremden, ob er ihm helfen könne. Die Antwort bestand in unverständlichen Lauten, die Aufregung und Ärger ausdrückten. Ruckartige Körperbewegungen unterstrichen diesen Eindruck.

Im nächsten Moment stand ein zweites, dem ersten in Aussehen und Verhalten ganz ähnliches Wesen vor Golch. Es streckte einen Arm gegen ihn aus und fuchtelte damit aggressiv herum. Bevor die Lage sich weiter zuspitzen konnte, wurde die Glastür geöffnet, und ein schmächtiges Mädchen kam herein. In seinen Händen hielt das Kind einen langen, dicken Stock, mit dem es sogleich entschlossen auf die bedrohlichen Gestalten einschlug. Mit einem Sprung war Golch bei der Tür und gelangte ins Freie.

Froh, entkommen zu sein, machte er sich auf den von der Geschäftsführerin beschriebenen Weg. An der nächsten Kreuzung kam er jedoch nicht weiter. Der gesamte Block war von Sicherheitskräften abgesperrt worden. Ein Polizist sprach von einem „ungelenken Weltuntergang“, der sich drüben „abspiele“. Es war nicht möglich, den Abfallbehälter zu erreichen, und Golch warf das in Alufolie Gewickelte einfach auf den Müll.

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