: Komplexe Zehntausend
Politisches Gedöns Das ist das Berlin, das sich um schwindende Freiräume in der Stadt sorgt: der Zug der Liebe und sein Lebensgefühl der Ausgelassenheit
von Andreas Hartmann
Es ist schlicht und trotzdem irgendwie genial: das Konzept, einfach nur tanzend durch die Stadt zu ziehen, um ein Lebensgefühl zu demonstrieren.
Die Loveparade hatte als kleiner Umzug von ein paar verstrahlten Ravern über den Ku’damm 1989 begonnen, wurde irgendwann zum Millionenevent und endete dann 2010 in Duisburg in der Katastrophe. Ein ähnliches Schicksal wird dem noch jungen Zug der Liebe wohl erspart bleiben. Zur Erstauflage des Technoumzugs im letzten Jahr kamen 25.000 Besucher, die Veranstalter rechneten in diesem Jahr mit einer Verdopplung der Teilnehmer. Nach Angaben der Polizei tanzten jedoch nur um die zehntausend Feierwillige letzten Samstag den DJ-Wagen hinterher, die von der Karl-Marx-Allee langsam Richtung Treptower Park zogen.
Es reicht nicht, den eigenen Hedonismus auszustellen
Zehntausend sind aber immer noch eine ganze Menge. Wer den ganzen Zug mit seinen mehr als 20 Wagen ablief, war eine ganze Weile unterwegs. Anders als zur Loveparade-Zeiten reicht es heute freilich nicht mehr, bloß den eigenen Hedonismus auszustellen, der Zug der Liebe – das ist erklärtermaßen sein Anspruch – setzt viel mehr auf Botschaften.
Im letzten Jahr hatten viele das vielleicht noch gar nicht verstanden. Da erinnerte die Veranstaltung noch mehr an die Loveparade als bei diesem Mal. Jetzt waren die politischen Mottos der Wagen, aber auch auf den Schildern der Tänzer, die eher wie Demonstranten als gerade aus dem Club Getaumelte wirkten, nicht mehr zu übersehen. „Tanzt für Toleranz“ konnte man lesen, „Glitzer gegen Glatzen“ und „Menschenrechte statt rechte politische Menschen“. Sogar Slogans wie etwa „Make Love Not War“ und „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ sind ganz offensichtlich weitgehend ironiefrei aus der Mottenkiste der Friedensbewegung wieder herausgeholt worden.
Auf dem kleinen Wagen mit der Gabba-Musik war der vergleichsweise komplexe Spruch zu lesen: „Politik hinter verschlossenen Türen ist keine Demokratie, sondern Diktatur“. Um diesen Satz ganz zu lesen, musste man vielleicht kurz seinen Ausdruckstanz unterbrechen. Vor dem Gefühl, man hätte sich am Ende auf irgendeiner ganz doll politischen Latschdemo verirrt, bewahrte einen dann der spaßbegabte Raver, der andauernd dieses Schild in die Höhe streckte, auf dem zu lesen war: „Schild“.
Es gab von Beginn an eine gewisse Skepsis, ob das politische Gedöns den Veranstaltern des Zugs der Liebe wirklich so wichtig ist, wie sie immer tun. Ihr Umzug am Samstag zeigte: ganz offensichtlich schon und vielen der Menschen, die hier mitzogen, auch. Die Berliner Obdachlosenhilfe hatte einen Wagen, die „Antifaschistische Aktion“, und auf einem Truck präsentierten sich die „Gay Refugees Berlin“. Es war also ein wirklich bunter Zug, der da stundenlang durch die Stadt zog, Mädchen mit „Free Hugs“-Schildern vor dem Bauch, ein Typ mit IG-Metall-Fahne, einer, der auf seinem Demo-Banner behauptete „Jesus Loves You“, Schwule, Lesben, Heteros, Berufsraver, Halbnackte, Normalos und ein paar Touristen.
Das ist das Berlin, das sich um verschwindende Freiräume in der Stadt sorgt, um steigende Mieten und Verdrängung. Es ist das Berlin, das hier, zwischen Ostbahnhof und Eastside Gallery, in unmittelbarer Nähe zur Mercedes Benz Arena, neben der gerade eine riesige Shopping-Mall entsteht, und ein Hochhaus mit überteuerten Wohnungen hinter den Resten der Berliner Mauer prunkt, sichtbar wie ein Fremdkörper wirkte.
In der Holzmarktstraße wurden eben die ersten Wahlplakate aufgehängt. Da bekam man einfach das Gefühl, dass genau dieses unangepasste Berlin, das sich hier so ausgelassen zeigte, langsam in die Defensive gerät. Vorbei am feisten Frank Henkel ging es, der immer noch so selbstzufrieden dreinblickt, trotz seiner Desaster-Veranstaltungen in der Rigaer Straße, und vorbei an Michael Müller, der auf dem Wahlplakat und im Vergleich zu den ausgelassenen Ravern plötzlich noch blasser wirkte als ohnehin schon.
Den letzten Wagen des Zugs stellte die Berliner Stadtreinigung. Eifrig machte diese alles sofort wieder weg, was übrig geblieben war, nachdem die Pfandflaschensammler ihre Beute gemacht hatten. Alles sollte schnell wieder ordentlich, sauber und aufgeräumt sein, genau so, wie die Teilnehmer am Zug der Liebe ihr Berlin eben nicht wollen.
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