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„Es ist kein Fehler, wenn man den Text nicht kann – es geht um die Inhalte“

DIE SOUFFLEUSE Tina Pfurr hat eine Rolle im Theater, die vom Publikum selten wahrgenommen wird: Sie sagt Schauspielern ihren Text vor. Dabei flüstert sie nicht leise vom Rand aus, sondern steht in den Produktionen von René Pollesch mit auf der Bühne. Der Job, sagt Pfurr, sei eine Gratwanderung: Sie hat große Macht, darf sich aber selbst nicht zu wichtig nehmen. Und auch, wenn sie ihren Text nicht vergessen kann: Aufgeregt ist sie trotzdem jedes Mal

Tina Pfurr

■ Der Mensch: Tina Pfurr wurde in Kassel geboren und zog nach Stationen als Regie- und Dramaturgieassistentin in Göttingen nach Berlin, wo sie einige Semester Germanistik studiert hat. Die 32-Jährige lebt in Prenzlauer Berg.

■ Die Arbeit: Weil an der Volksbühne 2001 eine Souffleuse für ein Pollesch-Stück krank geworden war, rief eine Dramaturgin bei Pfurr an. Sie sprang ein und probte noch am selben Tag „Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels“. Seitdem steht sie bei Pollesch gemeinsam mit den Schauspielern auf der Bühne. Jenseits des Soufflierens arbeitet sie als Schauspielerin – nur nicht bei Pollesch – und als Künstlerische Leiterin des Ballhauses Ost in Prenzlauer Berg. Als Schauspielerin ist Tina Pfurr am 4. 1. bei „Dancing About“ von Gob Squad zu sehen, als Souffleuse am 12. 1. bei „Don Juan“, beides in der Volksbühne.

INTERVIEW SUSANNE MESSMER FOTOS AMÉLIE LOSIER

taz: Frau Pfurr, wie heißt es denn nun: Souffleuse oder Souffleurin?

Tina Pfurr: Souffleuse.

So wie Friseuse?

Wir sind ein total verkannter Berufsstand. Sie wissen nicht mal, wie wir heißen. Außerdem denken alle sofort an ausgediente Tänzerinnen und alte Schauspielerinnen.

Stimmt das nicht?

Es gibt viele Frauen jenseits der 50 in diesem Beruf. Der Job scheint nicht glamourös genug zu sein für Männer. Aber das heißt ja trotzdem nicht, dass wir keine gute Arbeit machen.

Sie haben mit Vorurteilen zu kämpfen.

Von Leuten, mit denen ich mich über meinen Job unterhalte, bekomme ich manchmal Kommentare, die nicht besonders respektvoll sind. Die Leute wissen nicht darüber Bescheid, was wir machen, und glauben, das ist so ein Fußabtreterjob. Wenn man aber ein bisschen von der Arbeit erzählt, wird man schnell besser verstanden. Immerhin ist dieser Job auch einer der sichersten am Theater.

Haben Sie schon einmal in einer Muschel gesessen, in der sich Souffleusen traditionell verstecken mussten?

Ich habe noch nie im Leben auch nur eine gesehen.

Warum nicht?

Ich bin nicht sicher, ob es die wirklich noch gibt. Ich bin bis auf wenige Ausnahmen die Souffleuse von René Pollesch und sozusagen die fünfte Schauspielerin auf der Bühne – aber ohne eigenen Text und dafür mit einem Textbuch in der Hand.

Was machen Sie genau auf der Bühne?

Wenn ein Schauspieler in der Vorstellung nicht weiterweiß, rufe ich den Text einfach rein. Pollesch will nicht verstecken oder verheimlichen, wenn jemand seinen Text nicht kann.

Wie beginnt die Arbeit in der Regel bei René Pollesch?

Er kommt mit einem Stück Text, und die Schauspieler fangen schon beim ersten Lesen an, Vorschläge zu machen. Es wird in den Proben sehr viel geredet und jeder ist am Entwicklungsprozess des Textes beteiligt. Man erzählt Persönliches, was einem dazu einfällt, aber auch von Büchern und Filmen, die passen. Einfach alles, was den Text weitertreibt.

Sie tragen also auch zum Text bei.

Je länger ich dabei bin, desto mehr bringe ich mich ein. Die Arbeit ist sehr produktiv. Nach einigen Wochen ist der Text meist sehr angeschwollen.

So sehr, dass man ihn sich schwer merken kann?

Es gibt sehr viel Text, und häufig ist er ganz kompliziert und verwoben. Eigentlich ist er gar nicht zu bewältigen.

Auch nicht vom Publikum?

Nein. Man kann nur andocken und sich mit Hilfe eines Gedankens durch den Text hangeln. Außerdem sind da oft Schleifen, in denen sich Sätze oder Inhalte wiederholen. In denen kann man sich ganz schön verlaufen. Das macht die Arbeit mit Pollesch so spannend: Man kann in einem Stück, das man schon 15-mal gespielt hat, plötzlich wieder einen neuen Gedanken für sich finden, weil sich zum Beispiel im Privaten etwas verändert hat und ein Satz plötzlich eine ganz neue Bedeutung bekommt.

Haben die Schauspieler oft Hänger?

Fünf-, sechs-, siebenmal am Abend.

Und ist es nicht schwierig, mit den Augen gleichzeitig beim Geschehen auf der Bühne und dem Text im Buch zu sein?

Das fällt mir zum Glück leicht, weil ich mir sehr schnell Text merken kann. Außerdem merke ich mir den Text im Buch auch grafisch, damit ich schnell alles wiederfinde. Deshalb verwende ich beim Soufflieren meist die Erstfassung des Textes mit vielen handschriftlichen Anmerkungen und Änderungen.

Korrigieren Sie manchmal einen Schauspieler?

Das kommt darauf an. Wenn jemand nur ein falsches Wort sagt, würde ich nicht reingehen. Wenn es inhaltlich zu weit weggeht oder wenn fünf Seiten übersprungen wurden, dann schon.

Wie merken Sie, dass einer einen Hänger hat?

Ich habe bei jedem Schauspieler eine andere Strategie. Bei manchen braucht es auch gar keine. Sie schreien von sich aus: „Text!“ oder „Hilfe!“ oder meinen Namen. Es gibt einen Schauspieler, mit dem sich während der Proben Gesten ergeben haben. Ich zeige zum Beispiel irgendwohin, auf die Nase zum Beispiel, so dass er eine Assoziation dazu hat, welcher Textabschnitt kommt.

Da ist ja doch wieder Heimlichkeit.

Manchmal. Man muss aber auch bedenken, was hinter der Bühne alles abläuft. Das ist der Wahnsinn. Die Leute, die in der Requisite arbeiten, die Leute, die das Licht machen, die Maschinisten, die die Drehbühne drehen. Das ist ein riesiger Apparat aus bis zu vierzig Personen, die den Laden jeden Abend zum Laufen bringen. Wenn man die alle in allen ihren Aktionen sichtbar machen wollte, dann wäre die Bühne zu klein.

Ist das Soufflieren stressig?

Ich bin jedes Mal aufgeregt. Man hat ja eine große Verantwortung. Und es ist immer wieder überraschend, auf so einer großen Bühne zu stehen und zu merken, wenn jemand hängt. Und dann plötzlich seine eigene Stimme zu hören.

Haben Sie selbst mal einen Einsatz verpasst?

Ein einziges Mal. Da habe ich aber auch nur länger gebraucht, weil eine Schauspielerin ihren Einsatz verpasst hatte, der das zuvor noch nie passiert war. Davon war ich irritiert.

Hatten Sie nie Lust, vollwertige Schauspielerin bei René Pollesch zu werden?

Nein, das würde nicht funktionieren. Aber ich mag die Rolle der Souffleuse, die wir gemeinsam erarbeitet haben. Man muss schon große Freude am Soufflieren haben. Man kann das nicht machen, wenn man eigentlich lieber auf der Bühne stehen würde.

Was unterscheidet eine gute von einer schlechten Souffleuse?

Man muss ein gutes Maß finden, wie wichtig man sich selbst nimmt. Man muss mit den Leuten auf der Bühne gut umgehen können. Und natürlich muss man Freude daran haben.

Haben Sie manchmal mit Hierarchien zu kämpfen?

Bei Pollesch zeigt niemand mit dem Finger auf den anderen, weil der seinen Text vergessen hat. Es ist kein Fehler, wenn man den Text nicht kann, es geht um die Inhalte. Und darum gehört der, der ihn hat und ihn sagen kann, eher zum Stück dazu. Man wird gebraucht und respektiert – als Mitglied der Truppe.

Gibt es keine Konflikte?

Einmal wurde mir das Textbuch aus der Hand gerissen und es gab einen Rollenwechsel. Der Schauspieler hat eine Szene lange souffliert, und ich bin kurz in seine Rolle geschlüpft. Nach dem Motto: „Wenn du eh immer alles besser weißt, dann spiel es doch gleich selbst!“ Wir hatten uns schon bei den Proben überlegt, dass das sehr gut passen würde, es war einfach an der Zeit. Ein andermal habe ich hinter der Wand etwas gesagt, und da hat mich ein Schauspieler auf die Bühne gezerrt und angeschrien: „Wenn du schon was sagen musst, dann sag es doch laut!“ Aber das sind ja keine echten Konflikte. Das ist eher sehr lustig – so lustig, dass das Publikum oft unglaublich reagiert.

Wirklich immer Friede, Freude und Eierkuchen?

Immer. Eine Souffleuse muss jemand sein, der die Leute total vertrauen können. Man muss sich auf sie verlassen können – dass da in jedem Fall jemand da ist und mitliest. Und im Gegenzug muss die Souffleuse die Schauspieler ernst nehmen. Denn man hat sehr viel in der Hand in dieser Position, man hat eine große Macht.

Nehmen Sie im Team manchmal die Rolle der Mutter ein?

Vielleicht eher die der großen Schwester. Wenn es auf eine Premiere zugeht und alle immer nervöser werden und man jedem extra sagen muss, dass es gut ist, dass er es schafft und kann, dann fühle ich mich schon manchmal so.

Wie sind Sie eigentlich zum Soufflieren gekommen?

Eher durch Zufall. Ich habe in der Schule Theater gespielt und es wurde sehr schnell klar, dass ich am Theater arbeiten möchte. Ich war nach dem Abi zuerst für ein Praktikum nach Göttingen gegangen, ans Junge Theater, wo ich dann auch Dramaturgie- und Regieassistentin wurde. Dann ging ich auf gut Glück nach Berlin. Ich schrieb mich an der Uni ein, für Germanistik und Philosophie, war auch ein paarmal dort. Und nebenher habe ich angefangen, an Schauspielschulen vorzusprechen und zu jobben. Ich habe damals in einer Bäckerei gearbeitet und musste morgens um fünf Brötchen schmieren. Ich brauchte dringend einen besseren Job. Da rief mich eine Dramaturgin an, ob ich nicht für eine Souffleuse bei René Pollesch einspringen will, weil sie krank geworden war.

„Die Leute wissen nicht, was wir machen. Wir sind ein total verkannter Berufsstand“

Waren Sie verblüfft, als Sie zum ersten Mal mit Pollesch zu tun hatten?

Mir war nicht klar, was da auf mich zukommt. Ich kannte Pollesch nicht. Ich brauchte einfach nur einen Job, und einer am Theater war ideal. Es war zwei Wochen vor der Premiere von seinem Stück „Insourcing des Zuhause. Menschen in Scheiß-Hotels“. Der Regieassistent stellte mich kurz vor, mir wurde ein Textbuch in die Hand gedrückt. Und die Probe ging los.

Und das hat Sie nicht alles gewundert?

Nein, eigentlich nicht. Das Junge Theater, an dem ich zuvor gearbeitet hatte, war ziemlich unkonventionell gewesen. Werner Feig hatte Popliteraten wie Rainald Goetz, Moritz von Uslar und Benjamin von Stuckrad-Barre ans Junge Theater gebracht. Außerdem war ich jung, die waren alle aufgeschlossen, ich habe mich da gleich sehr wohl gefühlt und ganz viel gelacht, weil ich es alles einfach gar nicht fassen konnte. Ich war begeistert, alles war neu und aufregend. Es funktionierte so gut, dass sich schon bei der zweiten Produktion ergab, dass ich mit auf der Bühne war.

Haben Sie auch mal für einen anderen Regisseur souffliert?

Ich wurde von mehreren Theatern gefragt, ob ich bei denen soufflieren will, aber das interessiert mich nicht so. Ich habe mir bei Pollesch eine Rolle erarbeitet. Alles andere wäre mir zu langweilig – auch, weil ich nicht immer dasselbe machen will. Nur einmal habe ich etwas anderes gemacht und die Dreigroschenoper von Klaus Maria Brandauer souffliert. Da habe ich sogar in einem Gang gesessen, der vom Publikum aus nicht zu sehen ist.

Und war das langweilig?

Ich war viel zu aufgeregt, um mich zu langweilen. Aber auf die Dauer wäre diese Art des Soufflierens trotzdem nichts für mich.

Kann man eigentlich vom Soufflieren leben?

Ich verdiene nicht schlecht, auch wenn ich nur frei arbeite. Ich habe mir über die Jahre ein gutes Gehalt erarbeitet. Vom Soufflieren allein könnte ich trotzdem nicht leben,weil ich manchmal nur zwei Aufführungen im Monat habe. Soufflieren ist aber auch eher zum Nebenjob geworden, weil ich hauptberuflich als Künstlerische Leiterin des Ballhaus Ost arbeite.

Was machen Sie da genau?

Ich bin unter anderem für die Spielplangestaltung zuständig, für die Auswahl der Stücke und die Kommunikation mit Kooperationspartnern oder der Presse.

Wie lang wollen Sie noch bei Pollesch soufflieren?

Ich sage schon seit acht Jahren, dass es mein letztes Stück ist. Aber dann finde ich die Arbeit doch immer wieder so interessant. Ich finde es auch spannend, dass ich einen Regisseur so lang begleitet habe und mitbekommen konnte, wie sich seine Arbeit verändert hat.

Danke für das Gespräch. Es war sehr kurzweilig.

Das liegt daran, dass ich zu schnell spreche.

Ist das ein Vor- oder ein Nachteil beim Soufflieren?

Selbst bei Pollesch ist es eher ein Nachteil.

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