Die Wahrheit: Im tiefen Tränental
Wahrheit investigativ: Der Jugendwahn im Fernsehen fordert neue Opfer. Ein Besuch bei zwei gramgebeugten Betroffenen.
„Es ist so bitter, so bitter!“, jammert Wolf-Dieter Schwanitz und blättert in dem vor ihm liegenden aufgeschlagenen Aktenordner mit Verträgen. „Und so ungerecht!“, meint seine Frau Marilene. Die 74-Jährige mit dem Allerweltsgesicht und der akkuraten Mireille-Mathieu-Frisur schüttelt kläglich den Kopf. Jahrelang hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann eine bombensichere Stellung im deutschen Fernsehen – und nun das: Das ZDF hat den beiden Spitzenkräften fristlos gekündigt. „Es ist dieser verdammte Jugendwahn“, flucht der drahtige Endsiebziger, und seine Frau beginnt hemmungslos zu weinen.
Seit einigen Monaten ist in den öffentlich-rechtlichen Sendern eine seltsame Erstarrung zu beobachten, die wie die Ruhe vor dem Sturm wirkt. Bei ARD und ZDF sind nur noch Polizei- oder Zoll-Reportagen zu sehen, in denen Gesetzeshüter Autobahnrasern oder Wildtierschmugglern das Handwerk legen. Mit der immer gleichen beruhigenden Botschaft: Würde nur härter durchgegriffen, wäre die Welt in Ordnung.
Oder es wird von Kreuzfahrten berichtet, wo die Besatzungen trotz der beschwerlichen Umstände auf den Traumschiffen stets begeistert sind von ihrer harten Arbeit. So wie es Rentner von früher kennen, als alles noch an seinem ordnungsgemäßen Platz war. Das mögen die Zuschauer des Kukident-Senders ZDF, deren Durchschnittsalter mehr als sechzig Jahre beträgt.
Ein wichtiges investigatives Element fehlt
Doch etwas fehlt in letzter Zeit, jahrzehntelang war es ein wichtiges Element investigativer Magazine wie „Plusminus“ oder „Wiso“. Seit Wochen hat es keine Reportage mehr gegeben, in der ein Rentnerpaar vor einem aufgeklappten Aktenordner am Wohnzimmertisch sitzt und in die Kamera hinein das ungerechte Treiben von Versicherungsvertretern oder Anlageberatern beklagt, die sie über den Tisch gezogen haben.
Den Grund liefern Marilene und Wolf-Dieter Schwanitz, die wir in ihrem gemütlichen Berliner Heim aufgesucht haben. Dort erfahren wir ein Geheimnis, das die deutsche Medienlandschaft in ihren Grundfesten erschüttern könnte. Denn all diese übers Ohr gehauenen und um die Früchte ihrer Arbeit gebrachten Fernsehrentner waren immer dieselben Personen: Marilene und Wolf-Dieter Schwanitz, die intern als beste Opferdarsteller des deutschen Fernsehens gelten.
„Vor zwanzig Jahren haben wir zufällig damit angefangen“, erläutert Schwanitz, der damals gerade als Lehrer frühpensioniert wurde. „Unser Kundenberater bei der Bank hatte uns faule Papiere angedreht“, ergänzt seine Frau und lächelt versonnen durch den Tränenvorhang, als sie von ihrem Einstieg ins Fernsehgeschäft erzählt – von der Premiere im Dritten Programm des NDR. Wo sie hinter ihrem ersten Aktenordner saßen, aber bereits alle wichtigen Ausdrucksmittel hatten zeigen können: das verbitterte Dreinschauen, der erstickte Tonfall, das fassungslose Kopfschütteln und so vieles Dramatisches mehr.
„Wir wurden sofort wieder gecastet“, schildert Schwanitz stolz. Sie seien einfach gut bei älteren Zuschauern angekommen, und da habe sie eine Redaktion nach der anderen verpflichtet. Mit der Zeit wurden die Schwanitzens in den Fernsehhäusern zum Inbegriff des Altenbetrugs: „Banken, Versicherungen, Behörden – wir hatten sie alle“, schmunzelt Marilene, die großen Spaß vor allem an den Verkleidungen hatte.
Nur einmal seien sie fast aufgeflogen, als sie bei „Stern TV“ ihren ersten Auftritt als ostdeutsches Betrugsopfer hatten. Zufällig lief fast zeitgleich im Ersten eine Dokumentation über den Enkeltrick im süddeutschen Raum, und da sei einigen Zuschauern schon die Ähnlichkeit aufgefallen. Auch deshalb hätten sie nie bei den Privatsendern eine große Karriere gemacht.
„Mit Dialekten komme ich gut zurecht, gell“, behauptet Marilene Schwanitz, die uns ihre gewaltige Sammlung von Produktionsperücken und -brillen vorführt. Man erkennt sie tatsächlich kaum wieder, wenn sie sich in eine der betuppten Figuren verwandelt. Besonders ihre Wandlungsfähigkeit hat die beiden Kleinstdarsteller zu den meistgebuchten Köpfen des deutschen Fernsehens gemacht. Jedenfalls bis zum letzten Monat. Dann wurden neue Programmrichtlinien für Nepper, Schlepper und Bauernfänger in den öffentlich-rechtlichen Sendern erlassen.
Das ZDF hat einen gewagten Plan ausgeheckt
„Wir haben alles verloren“, sagt Schwanitz und zeigt das Kündigungsschreiben des ZDF-Programmdirektors, das er aus einem dicken Aktenordner gezogen hat. „Die Rentnergang ist tot“, schrieb der Spiegel erst kürzlich. Um aber das Genre wiederzubeleben, hat das ZDF angeblich einen gewagten Plan ausgeheckt und beabsichtigt eine deutliche Verjüngung: „Claus Kleber und Gundula Gause sollen unsere Rollen übernehmen“, behauptet Schwanitz. Und nicht nur das: „Sie sollen alles nackt spielen!“, entrüstet sich der Doku-Veteran über die „heute journal“-Moderatoren. „Krass!“, kommentiert Marilene Schwanitz, die sich vorsorglich ein paar Jugendvokabeln antrainiert hatte, die kühne Idee.
Auslöser für die radikale Verjüngungskur mit der 51-jährigen Gause und dem 60-jährigen Kleber ist offenbar der Schock, den das 38-jährige Nachwuchstalent Tobias Schlegl auf dem Mainzer Lerchenberg mit seinem Rücktritt erzeugt hat. Wie der „Aspekte“-Moderator kürzlich bekanntgab, möchte er künftig lieber als Rettungssanitäter arbeiten, wo er doch in dem Geronto-Sender sämtliche Hinfälligen der Republik betreuen könnte.
„Wir müssen noch mal ganz von vorne anfangen und auf irgendeinem Kreuzfahrtschiff anheuern“, seufzt Wolf-Dieter Schwanitz fassungslos. „Das hätte ich nicht für möglich gehalten, ich habe den Leuten vom Fernsehen vertraut“, schluchzt seine Gattin. Und als wir die beiden Gramgebeugten verlassen, sehen wir erst, wie tief die Täler sind, die ihre Tränen in die Gesichtslandschaften gegraben haben.
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