: Rezept gegen die Leere
Kulturkirchen In Zeiten sinkender Mitgliederzahlen greifen die Kirchen zu Gegenmaßnahmen und öffnen sich für Kultur. Davon profitieren beide Seiten
Von Joachim Göres
Lange Schlangen vor einer Kirche, das ist in unseren Breitengraden eher ungewöhnlich. In der 1.000 Menschen fassenden Emder Martin-Luther-Kirche ist dies jüngst passiert – allerdings nicht vor einem Gottesdienst, sondern beim ausverkauften Gospel-Konzert von Kathy Kelly. Die Kirche in Emden – wie auch Gemeinden in Hildesheim, Hannover und Bremerhaven – wird von der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover bis 2017 mit jährlich 50.000 Euro für besondere kulturelle Aktivitäten gefördert. „Wir bieten ein vielseitiges Programm, um möglichst vielen Menschen die Türen zu einer Kirche zu öffnen, die sie sonst nie kennenlernen würden“, sagt die Kulturmanagerin Dagmar Köhler, die für die Kulturkirche in Emden zuständig ist.
Nach Schätzungen präsentieren sich rund 100 Gotteshäuser in Deutschland als Kulturkirche. Im mecklenburgischen Federow finden in der Dorfkirche regelmäßig Hörspiele statt. In der Kulturkirche St. Johannis in Hamburg-Altona ist gerade eine neue Jazzreihe gestartet. Im südniedersächsischen Schnedinghausen wird die Kapelle als Literaturkirche regelmäßig für Lesungen genutzt. In Bremerhaven stehen in der Pauluskirche Musik und Tanz im Mittelpunkt.
Meistens werden in den Kulturkirchen weiterhin Gottesdienste gefeiert. „In einem normalen Gottesdienst kommen bei uns 20 bis 40 Menschen, beim Tango-Gottesdienst neulich mit Predigt, Gesang und Tanz haben wir 120 Besucher erreicht. Die Kultur baut für viele Menschen eine Brücke zur Kirche“, sagt Andrea Schridde, Pastorin in der Pauluskirche Bremerhaven. „Von Künstlern höre ich nicht selten: ‚Ich bin Agnostiker, aber der Gottesdienst hat für mich etwas Neues erschlossen.‘“
Junges Publikum
In der Bremer Kulturkirche St. Stephani zieht man mit Poetry-Slam ein junges Publikum an. „Da war die Kirche brechend voll“, berichtet Pastorin Diemut Meyer. In St. Stephani werden zudem regelmäßig Konzerte und Kunstausstellungen veranstaltet und dabei pro Jahr rund 20.000 Besucher gezählt. Auch in der Klosterkirche Fredelsloh in der Nähe von Göttingen werden Kunstwerke präsentiert und in die Gottesdienste einbezogen. Das war zunächst gewöhnungsbedürftig. „Es gab anfangs Proteste von Konfirmandeneltern, die die Bilder gar nicht gesehen hatten. Darauf haben sich alle Eltern die Ausstellung angeschaut und waren sehr angetan. Auf dem Land ist die Offenheit für kulturelle Aktivitäten der Kirche größer als in der Stadt, weil die Menschen sich freuen, dass wir ihnen Kunst und Literatur bieten, mit der sie sonst hier nicht in Berührung kommen würden“, sagt Pastor Peter Büttner.
Für viele Künstler ist die Kirche ein attraktiver Ort, um sich und ihr Werk vorzustellen. In Fredelsloh hat Büttner keine Probleme, Bilder von Künstlern aus der Region kostenlos für Ausstellungen zu bekommen. Verkaufen sie ein Ausstellungsbild, erhält die Kirche 25 Prozent des Preises. Eine Versicherung gibt es nicht – wird ein Bild in der nicht beaufsichtigten Kirche gestohlen, guckt der Künstler in die Röhre. Der Maler Henning Diers hält das für nicht vertretbar. „Wenn Kirchengemeinden Ausstellungen veranstalten und dem Künstler dafür nichts zahlen, dann leiden alle darunter, die wie ich von ihrer künstlerischen Arbeit leben.“
Nach einer Befragung im Literaturhaus St. Jakobi in Hildesheim, wo Lesungen mit bekannten Schriftstellern stattfinden, ist die Mehrheit der Besucher weiblich, älter als 50 Jahre und hat studiert. Man kommt, um Bekannte zu treffen und einen Autor kennenzulernen. Als positiv werden die zentrale Lage, die besondere Akustik und die von Gemeinschaft geprägte Atmosphäre in der 500 Jahre alten Pilgerkirche genannt. In Berlin zielt die St.-Matthäus-Kirche mit hochwertigen Ausstellungen auf ein intellektuelles Publikum ab. In der Pauluskirche Bremerhaven wird dagegen darauf geachtet, dass auch arme Menschen im Problemstadtteil Lehe mit Kultur erreicht werden. Manche Kulturkirchen nehmen Eintritt, andere nicht. In manchen tritt der Don-Kosaken-Chor auf, andere rümpfen darüber die Nase.
Anstößige Kunst
„Für uns zählt als Kriterium die Qualität der Kunst“, sagt Bertram Sauppe, Pastor in der Markuskirche in Hannover. „Der Künstler muss kein Christ sein und sein Werk kann sich kritisch mit dem Glauben auseinandersetzen.“ Kunst soll Anstöße liefern und darf dabei auch anstößig sein – im vergangenen Jahr sorgte eine laute Videoinstallation zum Thema „Hölle“ dafür, dass es mit der Ruhe in der Markuskirche vorbei war. Derzeit sind dort zwei Bronzeplastiken des Bildhauers Gerhard Marcks ausgestellt. Eine ist der Göttin Fortuna gewidmet, die von Marcks mit entrücktem Blick und entblößter Brust gezeigt wird.
„Evangelikale könnten diese Darstellung einer heidnischen Göttin im Altarraum einer Kirche ablehnen“, meint ein Lehrer während einer Führung. „Marcks hat viele christliche Motive geschaffen. Uns geht es darum zu zeigen, dass er auch anderes gemacht hat, um Grenzen zu überwinden“, entgegnet Sauppe. Kuratorin Annegret Kehrbaum versucht bei der Führung mit den 15 meist älteren Besuchern über die ausgestellte Kunst ins Gespräch zu kommen – so entsteht ein Dialog über unterschiedliche Vorstellungen von Schönheit und Glück.
Viele zentral gelegene Kirchen in Großstädten wagen mit dem Schwerpunkt Kultur angesichts sinkender Mitglieder- und Besucherzahlen etwas Neues, um ihre Kirche wieder ins Gespräch zu bringen. Pastor Sauppe dagegen meint: „Das ist nicht unser Antrieb, wir haben eine aktive Gemeinde. Und wir sind durch unsere in ganz Hannover bekannten Konzerte schon immer Kulturkirche gewesen.“
Das zusätzliche Geld von der Landeskirche ermögliche es, Künstlern Raum zu bieten, die sonst nur schwer ausstellen könnten. Seitdem, so hat der Pastor beobachtet, gebe es mehr künstlerisch interessierte Menschen, die sich in der Gemeinde ehrenamtlich engagieren.
St. Stephani Bremen, Stephanikirchhof 8: Ausstellung „Marcks auf Mission“ über den Bildhauer Gerhard Marcks, bis 19. 8.
Markuskirche Hannover: Konzerte zum Jahresthema „Frieden“, 7., 14. und 21. 8., 18 Uhr
Martin-Luther-Kirche Emden, Hafenstr. 124: Ausstellung „Frauen der Reformation“, 7. 8.–3. 9.
St. Johannis Hamburg-Altona, Max-Brauer-Allee 199: Eröffnungskonzert Kulturprojekt „Tonali“ mit Nachwuchspianisten und Poetry-Slam, 11. 7., 20 Uhr
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