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Zeitstimmungen Ethnografien des Inlands: Hubert Fichte liest sich selbst, Guntbert Warns liest Volker HauptvogelBlitze über Kreuzberg

Selbst nach 1989 in Westdeutschland Aufgewachsenen steckt die BRD noch tief in den Knochen. Und es ist schön, wenn man daran erinnert wird, dass nicht alles piefig, ewig gestrig und erstarrt war.

1966 war Hamburg noch ein großer Pfeffersack, auch wenn die Beatles und eine lebendige Kunstszene schon einige fadenscheinige Stellen sichtbar gemacht hatten. Der 31-jährige Hubert Fichte war schon mit ein paar teils preisgekrönten Romanen in Erscheinung getreten. Am 2. Oktober 1966 las Fichte im Star-Club aus seinem Manuskript von „Die Palette“, das 1968 als Roman erschien. Darin setzt er der Kellerpinte in der ABC-Straße und ihren nonkonformen Besuchern ein Denkmal, das auch eine Generation später witzig, einfühlsam und schonungslos ist und eine eigenartige Liebe für die Hansestadt versprüht.

Hubert Fichtes später noch stärker gelebter Hang zum Ethnografischen ist zu erkennen, wenn er minutiös, in einer einzigartigen Mischung aus Dokumentation und Poesie den ersten Besuch seines Protagonisten Jäcki in der Palette beschreibt: „Jäcki geht über den Gänsemarkt. Jäcki geht vier Stufen hinunter. Jäcki macht die Tür wieder zu. Der erste Besuch dauert fünf Minuten. Das ist für die Palette nicht wichtig. Die fünf Minuten könnten neunundzwanzig Besuche sein oder neunhundert Besuche, von denen jeder zwölf Stunden dauert oder eine Stunde … In der Palette ist immer alles da.“

Fichte, der als Kinderdarsteller in Filmen mitwirkte und Schauspiel studiert hatte, liest seinen Text schlicht großartig, sein Hamburger Idiom lässt die Geschichten lang im Hörgedächtnis nachhallen. Begleitet wurde er bei dieser inzwischen legendären Beat-und-Poesie-Lesung von den in Westdeutschland erfolgreichen Garagenbeat­bands Ian & The Zodiacs und Ferre Grignard.

Die Lesung ist auch ein sozial-ethnografisches Dokument: Wenn Fichte andere Bezeichnungen für „Polizist“ aufzählt und das Publikum bei „Senatscowboy“ in verklemmt-wieherndes Gelächter ausbricht, ist zu ahnen, dass dieser Veranstaltung etwas Subversives angehaftet hat.

Hubert Fichte:„Beat und Prosa, live im Star-Club, Hamburg 1966“, supposé Verlag, Köln, 49 Min.

Als Häuser besetzt wurden

Ein paar Jahre später, diesmal Westberlin, damals neben vielem (Mauerstadt) auch großer Fluchtort aus der Enge der BRD. Der Deutsche Herbst hatte den Siegeszug von Punk ein paar Jahre verzögert. Mitte der 70er siedelte der Schriftsetzer Volker Hauptvogel von Bremerhaven nach Westberlin über, hält sich als Drogendealer über Wasser, arbeitet beim Tagesspiegel und wird 1978 Gründungsmitglied einer der ersten Berliner Punkbands, Mekanik Destrüktiw Komandöh, kurz MDK.

„Fleischers Blues“ sind seine Erinnerungen an eine Zeit, in der Häuser besetzt und die Interieurs alter Berliner Wohnungen winters im Ofen verfeuert wurden, Begegnungen mit der Polizei zu Auseinandersetzungen auf Leben und Tod ausuferten und man auf Partys Stars wie Udo Jürgens begegnen konnte. In der sympathisch und kurzweilig geschriebenen Coming-of-Age-Geschichte verdeutlicht Hauptvogel auch die absurde Insellage Berlins. Seine Schilderung des „Transits“, der Autobahnfahrt durch DDR-Gebiet nach Berlin, weckt eigene Erinnerungen an das Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber den DDR-Behörden.

Die Hörversion leitet Trio-Sänger Stephan Remmler mit einer launigen Begrüßung ein. Guntbert Warns liest „Fleischers Blues“ fast liebevoll, mit viel Verständnis für die Freuden und Nöte des Protagonisten, nur unterbrochen von den Kapitelüberschriften. Dass Remmler diese einwirft, ist zunächst ganz lustig, wirkt aber im Verlauf der Lesung albern. Zum Schluss rezitiert Remmler mit „Blitze über Kreuzberg“ noch ein Gedicht Hauptvogels, das die Stimmung der Zeit gut einfängt, aber auch verdeutlicht, warum Hauptvogel als Gastronom und Schauspieler mehr Erfolg hatte denn als Poet.

Eine gute Idee war es, am Ende der CD einen Song von Hauptvogels Band MDK zu stellen. „Berlin“ illustriert das Stimmungsgemisch von Aggression, Zukunftszugewandtheit und einer leisen Resignation, das in der Geschichte mit Worten beschrieben wird. Sylvia Prahl

Volker Hauptvogel: „Fleischers Blues“, 4 CDs, Deutsche Gram­mo­phon, ungekürzte Lesung, 322 Min.

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