: Sich in die Augen schauen
Austausch Noch nie gab es zwischen Berlin und dem polnischen Breslau so viele gemeinsame Projekte wie im Kulturhauptstadtjahr Breslau 2016. Am Bahnhof Friedrichstraße und am Breslauer Hauptbahnhof schafft das Luneta-Projekt Begegnungen in Echtzeit
von Uwe Rada
„Die Bilder der Zerstörung sehen einander immer ähnlich“, weiß die Breslauer Kunsthistorikerin Agata Gabiś und erinnert an das Ende des Kriegs. In Breslau ragen die ausgebrannten Kirchenwände auf der Dominsel in den Himmel, in Berlin ist es die zerstörte Altstadt. 1945 ist für Berlin und Breslau aber nicht nur das Jahr, in dem der Krieg und mit ihm die Zerstörung endet. Es ist auch das Datum, an dem die beiden eng miteinander verbundenen Städte getrennt werden. Aus Breslau wurde Wrocław. Und dort wollte man weder mit Berlin zu tun haben noch mit der eigenen Vergangenheit als deutsche Stadt.
Und nun steht da mehr als 70 Jahre später der Breslauer Stadtpräsident Rafał Dutkiewicz in einem blauen Zelt vor dem neogotischen Hauptbahnhof und grüßt seinen Berliner Kollegen Michael Müller mit einem Bonmot. „Früher hat Tucholsky gesagt, jeder anständige Berliner komme aus Breslau“, erinnert Dutkiewicz. „Heute könnte man sagen: Jeder anständige Berliner kommt nach Breslau.“
Zuvor hatte Müller daran erinnert, wie nahe sich beide Städte wieder gekommen sind. Auch Berlins Regierender Bürgermeister stand dabei in einem blauen Zelt. Es steht vor dem Bahnhof Friedrichstraße und gehört wie das Schwesterzelt in Breslau zum Projekt Luneta. In diesem Jahr, in dem sich Breslau als Europas Kulturhauptstadt feiert, soll auch Berlin etwas vom Glanz abbekommen.
Es ist die Technik, die die 346 Kilometer, die beide Städte voneinander entfernt sind, plötzlich zu einem Nichts zusammenschnurren lassen. Wer in den Zelten steht, kann über einen Screen mit den Zeltbesuchern der „Gegenüberstadt“ in Echtzeit kommunizieren. Man kann aber auch auf die sechzig hochauflösenden Bildschirme schauen, die die Umgebung beider Bahnhöfe in die jeweils andere Stadt beamen. Luneta, auf Deutsch Fernrohr, zoomt also heran, während die nationalkonservative Regierung in Warschau auf Abstand geht. Breslau als das freundliche Gesicht Polens? Für die Stadt an der Oder ist Europa tatsächlich kein Schimpfwort, sondern alltägliche Praxis. Gern hört man in Breslau auch ein anderes Bonmot: Berlin liege näher als Warschau, lautet es.
Clubnächte: In der Nacht vom 21. auf den 22. Mai in Berlin und vom 28. auf den 29. Mai in Breslau misst sich die Clubszene beider Städte. Mit dabei sind unter anderem der Berliner Tresor und das Breslauer Lokal. Veranstalter: Clubcommission, Polnisches Institut und Visit Berlin.
Film: In dem Film „Wir sind Juden aus Breslau“ werden 15 Zeitzeugen vorgestellt, die den Verlust ihrer Heimat beschreiben. 6. November im Kino Nowe Horizonty in Breslau, eine Woche später im Zeughauskino.
Jazz: Im Rahmen des „In Between-Festivals“ werden das ganze Jahr Jazz und darstellender Tanz präsentiert.
Stadtschreiber: Seit dem 15. April berichtet Marko Martin auf seinem Blog www.stadtschreiber-breslau.de vom Geschehen in der Kulturhauptstadt.
Info: Die gemeinsamen Projekte sind eine Initiative der Stiftung Zukunft Berlin und der Kulturhauptstadt Breslau in Kooperation mit Kulturprojekte Berlin GmbH. Mehr dazu auf www.breslau.berlin
„Berlin und Breslau sind in diesem Zelt eine Stadt“, freut sich auch Volker Hassemer, als Kultursenator 1988 selbst verantwortlich für das europäische Kulturhauptstadtjahr in Berlin. Als Chef der Stiftung Zukunft Berlin war er ein Ideengeber für all die Projekte, die 2016 zwischen Berlin und Breslau stattfinden. Dazu gehört neben Luneta der „Kulturzug“, der beide Städte bis Ende September an den Wochenenden verbinden wird, sowie eine gemeinsame Wirtschaftskonferenz, die am 9. Mai in der IHK stattfand. Der oft komplizierten „Beziehungsgeschichte“ beider Städte widmet sich auch ein Buch mit Essays deutscher und polnischer Autoren, das Kulturprojekte Berlin und der Bebra-Verlag herausgegeben haben. Gemeinsame Clubnächte und das „In-Between-Festival“ wenden sich an das jüngere Publikum.
Katarzyna Wielga-Skolimowska glaubt, dass es vor allem die Kultur ist, die die jungen Menschen in beiden Städten einander näher bringt. „Nach dem Beitritt Polens zur Europäischen Union wurden diese Kontakte intensiver, und der Austausch nahm zu“, hat die Leiterin des Polnischen Instituts in Berlin beobachtet. Dennoch dürfe man nicht nachlassen. Wielga-Skolimowska schlägt deshalb einen gemeinsamen Kulturfonds vor. „Dieser Fonds könnte eine stabile Basis für die Verfestigung des bisherigen Netzwerkes sein und neue Berlin-Breslauer Initiativen ermöglichen.“
Dass Kultur auch soziale und politische Praxis bedeuten kann, soll der Dienstagnachmittag in Luneta zeigen. In einem Berlin-Breslauer Dialog geht es um 16 Uhr über die Rückkehr beider Städte zu ihren Flüssen Spree und Oder. Organisator ist der Verein „Fresh Design“, der seit Jahren junge Aktivisten nach Breslau einlädt, um aktuelle Themen von Architektur und Stadtplanung in Praxisprojekte umzusetzen. Das Interessante daran: Sowohl an der Spree als auch an der Oder setzen sich Bürgerinitiativen für frei zugängliche Ufer und öffentliche Räume und gegen die Privatisierung an Immobilienkonzerne ein.
„In einer Kulturhauptstadt“, hat Krzysztof Czyżewski, einer der Väter der Europäischen Kulturhauptstadt Breslau 2016, festgestellt, „gibt es sowohl große als auch kleine Bühnen“. Entscheidend für die Nachhaltigkeit eines Events, so Czyżewski, sei die Frage, wie ernst es die Künstler nehmen, die Bühnen zu verlassen und dort hinzugehen, wo sich die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern der Modernisierung auftut – in vernachlässigte Innenstadtbezirke oder an die Peripherie der Städte.
Man könnte es auch so sagen: Eine Zukunft wird die neue Beziehung zwischen Berlin und Breslau nur dann haben, wenn es den Akteuren und Aktivisten in Breslau gelingt, eine neue soziale Dimension der Kultur von unten zu schaffen oder, wie es Czyżewski formuliert, zu einem „Laboratorium der Kultur“ zu werden.
Breslau wäre dann nicht nur Kulturhauptstadt, sondern auch aufregend und beispielgebend. Und ein must see für die Berliner. Denn die wissen bislang nur wenig über das, was auf der anderen Seite der Grenze geschieht. Die jungen Breslauerinnen und Breslauer dagegen kennen Berlin in- und auswendig. Höchste Zeit, also mal ins Fernrohr zu blicken und sich ins Gesicht zu schauen.
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