Notfallambulanzen: Die Tote muss warten
In Schleswig-Holstein gibt es Ärzte, die auch am Wochenende und nachts zu den Patienten nach Hause kommen. Einen von ihnen haben wir begleitet.
SCHLESWIG taz | Die Tote muss warten. Dabei wäre sie eigentlich dran, wenn es streng nach Reihenfolge ginge. Aber schon wieder klingelt das Telefon. Ralf-Günter Wegers runzelt die Stirn unter dem braunen Hut, zieht die rot-schwarze Kladde aus der Tasche und notiert die Adresse: „Kann sein, dass es ein Notfall ist. Das geht vor.“
Es ist ein strahlender Sonntagvormittag, bestes Wetter für eine Spazierfahrt in Wegers rotem Sportwagen. Der ist schon über zwei Jahrzehnte alt, ein Liebhaberstück, aber er beschleunigt tapfer, und so fliegt die Landstraße vorbei. Aus den Feldern sprießt lichtes Grün, der Himmel ist blau, in der Ferne ist als dünnes helles Band die Schlei zu sehen. „Mist!“, flucht Weger. „Ich hätte doch das Navi einstellen sollen.“
Im fahrenden Bereitschaftsdienst
Eigentlich kennt er sich gut aus in seinem Bezirk: Der 53-Jährige mit eigener Allgemeinarztpraxis in Schleswig ist nicht nur häufig im fahrenden Bereitschaftsdienst unterwegs, in seiner Freizeit tourt er zudem gerne mit dem Rennrad über die sanften Hügel der Angeliter Landschaft. Aber die Straße, in der sein Notfall wohnt, findet sich nicht so leicht. In der Kladde stehen noch weitere Adressen, die Wegers aufsuchen soll – auch die der Toten.
Deutschlands Gesundheitssystem steht im weltweiten Vergleich weit oben. Aber es gibt Probleme: Lücken, die heute noch klein sind, aber in absehbarer Zeit größer werden, wenn auf immer mehr Alte und Kranke immer weniger medizinisches Personal kommt. So ein Engpass ist heute schon in den Notfallambulanzen zu erleben, die es an allen Krankenhäusern gibt: Eigentlich sollten dorthin nur die Schwerkranken kommen, die Unfallopfer und die mit dem Lebensbedrohlichen, mit Herzinfarkt oder Schlaganfall. Aber immer öfter sitzen dort eben auch Patienten, die eigentlich zu ihrem Hausarzt gehen könnten.
Doch wohin, wenn die Praxen geschlossen sind, in der Nacht oder am Sonntag? Ganz einfach, sagt Ralf-Günter Wegers: „Dafür gibt es den ärztlichen Bereitschaftsdienst.“ Den stemmt seit vielen Jahren die Kassenärztliche Vereinigung. Das Angebot steht auf zwei Säulen: Einerseits sind das die sogenannten Anlaufpraxen, in Schleswig-Holstein meist direkt in oder zumindest nahe den Krankenhäusern untergebracht. Sie sind rund um die Uhr geöffnet. Zum anderen gibt es eine Fahrbereitschaft, die alle in Anspruch nehmen können, die es nicht selbst in die Praxis schaffen. Allerdings, so Wegers: „Es muss schon ein ärztlicher Notfall sein.“
So wie bei seinem ersten Patienten an diesem Morgen. Der Mann lebt in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung, das in einem alten Bauernhof untergebracht ist. Weil er nach einer Operation über Schmerzen klagte, wandten sich seine Betreuer an den Fahrdienst. Wegers stoppt in der Einfahrt, greift nach seiner schweren schwarzen Tasche, eilt ins Haus. Nur wenige Minuten dauert die Untersuchung, ebenso lange dann das Ausfüllen eines halben Dutzends Formulare.
Das Büro in der Tasche
In seiner Tasche hat Wegers auch ein kleines mobiles Büro mit Lesegerät für die Versichertenkarte, aber auch einem Etikettendrucker, damit er die Patientendaten nicht mehrfach schreiben muss. „Vierzig Minuten auf der Straße, zehn Minuten Formulare, zehn Minuten beim Menschen“, sagt der Allgemeinmediziner – „eigentlich Wahnsinn.“ Die „Ressource Arzt“ werde nicht eben pfleglich behandelt, aber eine bessere Idee, wie die Lücken der Versorgung auf dem Land zu schließen sind, hat er selbst auch noch nicht gehabt.
Aktuell setzt sich die Kieler Landesregierung im Bundesrat dafür ein, die Anlaufpraxen zu sogenannten Portalpraxen umzubauen, die noch enger mit den Krankenhäusern verzahnt sind. Dort sollen dann noch mehr Kranke in die Obhut der weniger überlasteten Kassenärzte übergehen. Unsinn, findet Wegers: „Dafür braucht man ja noch mehr Ärzte. Wo sollen die bitte herkommen?“
Als Notdienstbeauftragter für den Bezirk Schleswig weiß er, wie schwierig es schon jetzt ist, Freiwillige für die Nacht- und Feiertagsschichten zu finden. Im Prinzip stehen 25 Kilometer rund um eine Anlaufpraxis – so groß ist der Bezirk – rund 90 Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung, die verpflichtet wären, einen Teil der ungeliebten Dienste zu übernehmen. Aber einige, vor allem jüngere Ärzte, stammen nicht aus der Region – und sie wohnen auch nicht hier. Da ist es schwierig, am Sonntag ab 8 Uhr und die ganze Nacht hindurch bereitzustehen. Altgediente Fachärzte wiederum rümpfen schon beim Gedanken an Hausbesuche die Nase. „Da könnte ich ebenso gut eine geladene Schrottflinte losschicken“, sagt Wegers. So bleibt nur ein kleiner Kreis übrig.
Dabei können die Ärzte mit den Sonderdiensten ganz gut dazuverdienen: 50 Euro gibt es pro Stunde, dazu kommen Wegegeld, Zuschläge für Nachtstunden und die Honorare für jeden einzelnen Fall. „Das lohnt sich durchaus“, sagt Wegers.
Die Kranken rufen nicht direkt beim fahrenden Arzt an, sondern landen in einer Telefonzentrale, in der speziell ausgebildetes Personal die Anfragen sortiert. Erneut klingelt Wegers Telefon, seine Liste wird noch länger – wieder muss die Tote warten. Der nächste Weg führt wieder in eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung: Ein Bewohner hustet und bekommt schlecht Luft, die Betreuerin hält ihm während der Untersuchung tröstend die Hand. „Bronchitis“, stellt Wegers fest und verschreibt ein Medikament. Dann geht es wieder an den Papierkram.
Nach mehreren Heimen stoppt Wegers vor einem Privathaus. Die Bewohnerin kommt ihm schon an der Tür entgegen. Die 79-Jährige hat lange gezögert, bis sie den Arzt gerufen hat, schon seit Wochen tun ihr die Beine weh. Mühsam schiebt sie den Rollator ins Wohnzimmer und beißt die Zähne zusammen, während der Arzt das geschwollene Bein abtastet. „Ich habe Angst vor einer Thrombose“, gesteht sie. Zu Recht, meint Wegers. „Das sollte im Krankenhaus abgeklärt werden.“ Sie könne doch mit dem Taxi fahren, findet die Frau. „Dann sitzt du da ewig im Wartezimmer“, widerspricht ihre Tochter, die gerade hinzukommt. „Wir fahren mit dem Krankenwagen, dafür gibt es den ja.“ Wegers schreibt die Überweisung und fordert den Transport an.
„Unnötiger Aufwand, unnötige Kosten“, sagt er später. Die Fahrbereitschaft der Kassenärzte diene ja gerade dazu, die Kliniken zu entlasten – personell wie finanziell. Im Großen und Ganzen aber funktioniere das System, sagt er. Auch an diesem Tag sei noch kein unnötiger Fall dabei gewesen. „Wenn jemand allein zu Haus ist und sich schlecht fühlt, ist es ja nur richtig, Hilfe zu rufen.“
Einsamer Tod im Heimbett
Manchmal aber kommt jede Hilfe zu spät: Zwischen zwei weiteren Besuchen kommt endlich die immer wieder aufgeschobene Tote dran. An ihrer Zimmertür im Pflegeheim klebt neben dem Namensschild das Bild eines bunten Kakadus. Drinnen stehen Couch, Sessel und Tischchen, ein Fernseher auf der Kommode, vor dem Fenster zwitschern Amseln im Garten. Die Frau liegt auf dem Rücken im Bett, der Mund ohne ihr Gebiss eingefallen, das Gesicht gelblich verfärbt.
Gemeinsam mit einer Pflegerin dreht der Arzt den schlanken Leib herum – „mal sehen, ob ein Messer im Rücken steckt“, scherzt Wegers. Die Untersuchung dauert nicht lange, die Frau war 99 Jahre alt. Ein paar Tage zuvor hatte sie einen Schlaganfall, war „die letzten Tage kaum mehr ansprechbar“, sagt die Pflegerin. Es war ein einsamer Tod im Heimbett, aber offenbar ein friedlicher. Die Pflegerin muss jetzt die Verwandten der Verstorbenen benachrichtigen, während Wegers sich wieder auf den Weg macht.
Ein Dutzend Fälle verarztet er an diesem Tag, der kurz vor Mitternacht mit einer telefonischen Beratung endet. Ein Blick in ein Dutzend Schicksale – was weiter mit den Kranken geschieht, erfährt der Notdienstarzt normalerweise nicht.
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