Nachwuchsprofis der Fußball-Bundesliga: „Junge Spieler haben keine Zeit“
Der ehemalige Nationalspieler Pierre Littbarski erklärt, worauf der VfL Wolfsburg achtet und warum der Fußballnachwuchs immer mehr leisten muss.
taz: Herr Littbarski, Sie sind seit knapp 40 Jahren im Profifußball unterwegs. Wenn Sie die Vereine von damals mit den Unternehmen heute vergleichen – welches sind die gravierendsten Unterschiede?
Pierre Littbarski: Heute kommt man in einen funktionierenden Apparat hinein. Heute ist die Identifikation mit dem Verein für einen Spieler gar nicht so leicht zu bewältigen. Wir mussten uns unsere Anerkennung im Klub damals erst erkämpfen. Wir haben selbst die Ballnetze getragen und die Schuhe geputzt. Ich bin damals für null Mark nach Köln gewechselt …
Nicht für 25.000 D-Mark?
Es kann sein, dass mein damaliger Klub Hertha Zehlendorf für mich einen solchen Betrag bekommen hat. Wenn wir aber heute einen 18-Jährigen holen, dann hat der schon eine Historie. Es wird sofort publik gemacht. Und um an die Daten des Spielers und die Videos von ihm zu kommen, reicht ein Mausklick.
geboren 1956, leitet beimVfL Wolfsburg seit vier Jahren den Arbeitsbereich „Spielerbeobachtung und Entwicklung“.Als Fußballprofi war er diemeiste Zeit für den 1. FC Kölnaktiv. Er bestritt 73 Länderspiele und feierte mit dem Weltmeisterschaftstitel 1990 seinen größten Erfolg. Zum Ende seiner Karriere spielte er mehrere Jahre in Japan.
Als man Sie 1978 entdeckte, da waren Sie auch 18 Jahre alt und spielten mit Hertha Zehlendorf um die deutsche A-Jugend-Meisterschaft.
Bei mir war die Sache etwas anders. Ein Konditionstrainer vom Bundesligisten Hertha BSC hatte mich damals schon im Blick – aber er hat gesagt: Der ist zu klein, der kann im Profifußball nicht bestehen. In Westberlin war die Situation aber auch dadurch anders, dass die Mauer noch stand. Es kamen nicht so viele Beobachter zum Scouting, wie das bei den Vereinen in Westdeutschland der Fall war. Als Berliner musste man über das Jugendnationalteam auf sich aufmerksam machen.
Haben Sie in keiner der Auswahlmannschaften gespielt?
In meiner Zehlendorfer Zeit habe ich jeweils für einige Spiele in der U15 und in der U17 gespielt. Aber auch da sagte man mir nach einiger Zeit, ich sei körperlich zu schwach.
Wie bewerten Sie selbst heute die kleinen und schmächtigen Spieler, wenn Sie als Scout unterwegs sind?
Wir gucken immer, welche Qualitäten ein Spieler hat, wie seine Einstellung und seine Mentalität ist. Es ist zum Beispiel ein Faktor, ob er ein Gewinnertyp ist oder nicht. Dann überlegt man, ob er sich durchsetzen könnte. Wir sagen nicht: Der wiegt nur 58 Kilo, den kann man vergessen. Bei uns sind andere Charaktere gefragt als beispielsweise bei Bayern München. Wolfsburg ist auch eine eher kleine Stadt, da muss ein Spieler hinpassen. Sie sollen gerne für uns spielen, ihnen soll es Spaß machen – Maxi Arnold ist etwa so ein Typ, der den VfL Wolfsburg lebt.
Das heißt, bei einem wie Max Kruse passt es weniger gut?
Nein, das kann man so nicht sagen. Bei ihm ist die Sache ein bisschen vielschichtiger.
In der Nationalmannschaft wurde er wegen seines Verhaltens ausgebootet.
Jogi Löw hat eben gewisse Regeln und Vorgaben. Im Fall Max Kruse war es für ihn ein Verstoß gegen diese Vorgaben. Bei der deutschen Nationalmannschaft hat man sich für diesen Kurs entschieden, und sie sind bisher gut gefahren damit.
Es wird doch immer bemängelt, dem Profifußball fehle es heute an Typen wie Kruse.
Es gibt heute auch Spielertypen, die verrückt sind, ohne abzudrehen. Früher war es aber ein bisschen frecher, weil auch nicht alles auf die Goldwaage gelegt wurde, was man gesagt hat. Damals konnte man was sagen und es wurde schnell wieder vergessen.
Den Spielern heute wird oft vorgehalten, sie müssten gar nichts mehr selbst machen. Stimmt das?
Wir haben heute eine professionellere Betreuung. Wir versuchen den Spielern Dinge abzunehmen. Was ein junger Spieler heute nicht hat, ist Zeit für sich. Ich hatte als Spieler noch Freiräume, in denen ich nicht gestört wurde. Da war niemand, der einen mit dem Smartphone fotografiert hat, wenn man im Restaurant saß.
Heute haben wir den 24-Stunden-Profi?
Ja. Die Spieler stehen ständig unter Druck. Allein die Vorbereitung aufs Spiel und was die Spieler von uns an Informationen bekommen, ist Wahnsinn. Das muss alles erst mal verarbeitet werden.
Was bekommen sie denn?
Das entscheidet der Trainer. Die Spieler können von uns eine Videoanalyse von dem zuletzt absolvierten Spiel bekommen oder spezielle Analysen, die auf bestimmte Kriterien ausgerichtet sind. Zum Beispiel: Wie hat ein Stürmer sich auf dem Platz bewegt, bevor er ein Tor geschossen hat? Wo sind die entscheidenden Zonen, in die er vorstoßen musste?
Heute sagt man den Jungprofis einen Hang zu Videospielen nach – Stichwort Playstation-Profi. Nehmen diese Medien Einfluss auf das eigene Spiel?
Einer der neuesten Trends, den wir hier aber noch nicht nutzen: Man kann Szenen aus dem eigenen Spiel wie in einem Videospiel simulieren. Der Spieler setzt sich einen Helm mit Bildschirm auf, er sieht sich und seine eigenen Mitspieler wie in einem Playstation-Spiel. Die Zeiten der Kreidetafel sind vorbei.
In welchem Alter sind junge Spieler heute, wenn man beginnt, sie zu sichten?
Mein Sohn spielt in der U13 – dort steht am Spielfeldrand schon manchmal jemand vom Landesverband, manchmal auch ein Berater. In dem Alter geht das los.
Der englische Nationalspieler und Leicester-City-Profi Jamie Vardy hat bis vor fünf Jahren – er war 25 Jahre alt – noch in der 5. Liga gespielt. Eine unwahrscheinliche Karriere?
Sicher, ein absoluter Einzelfall. Ich finde solche Geschichten toll. Den hatte keiner auf der Liste. Ich habe kürzlich ein Spiel von Chelsea in der Uefa Youth League (europäischer U19-Wettbewerb der für die Champions League qualifizierten Vereine, d. Red.) gesehen. Da spielten gestandene Spieler, die schon beim Profiteam Chelseas auf der Bank gesessen haben. Das ist der Normalfall.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!