: Ausgeforschte Wirklichkeit
DOPPELAUSSTELLUNG Der Kunstverein kontrastiert bildkritische Objekte der estländischen Künstlerin Katja Novitskova mit sozialutopischen Videoarbeiten des Briten Rivers über Inseln
von Hajo Schiff
Klare Sache: Die Wissenschaft sorgt für die Fakten, die Kunst für die Phantasmen. Und was, wenn es doch andersherum wäre? Im subatomaren Bereich wie im Weltraum werden Bereiche erforscht, die mit gewöhnlichen Sinnen nicht mehr wahrnehmbar sind. Dennoch gibt es massenhaft Bilder von dem, was etliche Lichtjahre entfernt oder unvorstellbar klein ist.
Aus dem Unsichtbaren erzeugen Datenmengen Bilder. Aber was ist dazwischen, was ist dahinter? Die Daten werden nur nach Bildern gescannt, die Menschen verstehen können. Unser Weltbild bleibt der Filter, auch in nicht Menschen-zentrierten Bereichen. Die neuen Wissenschaftsbilder werden im Netz verbreitet und werden manchmal sogar populär. Bei alledem gibt allerdings auch ein Rechenfehler manchmal ein schönes Bild ab.
Anschaulichkeitsprobleme
Erst seit Kurzem befassen sich Kunsttheoretiker mit den Bildzeichen und Modellbildungen ihrer naturwissenschaftlichen Kollegen. Obwohl die immer schon ein ähnliches Veranschaulichungsproblem hatten wie die Künstler. Leonardo da Vincis Wasserwirbelskizzen sind zwar furiose Zeichenkunst, vor allem aber Forschung zum optimalen Wasserbau.
Das schon ikonisch gewordene Doppelhelix-Modell der DNA, das in seiner verdrehten Strickleiterform 1953 in der Zeitschrift Nature publiziert wurde, war weniger eine Entdeckung als eine ästhetische Setzung: James Watson und Francis Crick schoben tagelang selbst gebastelte Pappmoleküle hin und her und bauten aus Blech und Draht ein zwei Meter hohes Modell, von dem sie später sagten, dass die Struktur zu „hübsch“ sei, um nicht richtig zu sein.
In welchen Darstellungsmodi erkennt man ein sogenanntes „Gottesteilchen“ wie das Higgs-Boson? Und liegt nicht der Suche nach einer geraden Anzahl von Elementarteilchen ein durchaus ästhetisches Konzept der Symmetrie zugrunde?
Mikro- und Makrokosmos
In solchen Kontexten ist die Kunst der jungen estländischen Künstlerin Katja Novitskova Im Kunstverein verankert. Die im Kunstverein in Hamburg zu sehenden plastischen, oft drehbaren Bildobjekte entführen in den Mikro- und den Makrokosmos: Der Sonnenaufgang über dem Mars in Alu-Dibond geschnitten, die Entwicklung neuer Proteinstränge nach einem in der Biotechnik verwendeten Proteinstrukturvorhersage-Programm vergegenständlicht in durchsichtigen, dramatische Schatten werfenden Kunststoff-Stelen, von einer Display-Firma produziert und Science-Fiction-mäßig von Roboter-Insekten bekrabbelt.
Die sind aber als menschengemacht vielleicht weniger seltsam als der Gecko mit seinen unglaublichen Haftfüßen und sogar der kahlköpfig kugeläugige Marabu, wie der Mensch ein intelligenter Aasfresser, der das Geschehen im Raum verwundert begutachtet. Und gelegentlich wird eine Videoprojektion sichtbar: All diese fremdartigen, nur scheinbar verständlich bebilderten Vorstellungswelten werden wieder geerdet durch die den Betrachtern quasi über die Schulter schauenden Köpfe einer nächtlich im Dunkel weichmäulig kauenden Kamelherde. Fremd auch sie, aber immerhin weniger als Roboterinsekten und der Mars.
Diese zugleich bildmächtige und bildkritische Kunst wird für so gelungen eingeschätzt, dass die in Amsterdam und Berlin lebende 32-jährige Novitskova nach dieser ersten institutionellen Einzelausstellung nicht nur gerade für den wichtigen Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen nominiert wurde, sondern auch nächstes Jahr den Pavillon von Estland auf der Biennale di Venezia bespielen darf.
Auch im verdunkelten ersten Stock des Kunstvereins geht es weiter mit der Kritik an der Realitätskonstruktion durch Bilder. Drei große Videoprojektionen von Ben Rivers füllen den Raum, eine davon vier-kanalig und alle mit englischer Tonspur. Hier ist das Medium der Film, speziell in der Ausprägung als Mittel der ethnologischen Forschung. Denn der Londoner Künstler sucht nicht im Mikro- oder Makrokosmos, sondern wie einst die großen Seefahrer hinter dem Horizont die Inseln der Utopie.
Inseln der Utopie
Auf der Treppe grüßen noch reale Masken die Besucher, doch diese Jutegebilde scheinen irgendwie nicht „echt“. Sie können gleichermaßen aus der Südsee sein wie aus einem Kindergarten im englischen Somerset. Das stimmt auf die Haltung des Film-Künstlers ein, der Vanuatu eine fremdartige Insel findet – Großbritannien aber auch. Eine Insel war auch das von Thomas Morus 1516 zum ersten Mal beschriebene „Utopia“, die allermeisten späteren Paradiesvisionen und Sozialutopien nicht nur der europäischen Kultur waren es ebenso – oder sie mauerten sich ein.
In „The Creation As We Saw It“ berichtet Ben Rivers auf altertümliche Weise, in Schwarz-Weiß mit Zwischentiteln, von Schöpfungsmythen auf Vanuatu. Auch wenn er tatsächlich auf der Südpazifikinsel gefilmt hat: Die Grenze zwischen dokumentarisch und fiktiv bleibt bewusst offen. Und die im historisierenden Blick in den Mythen gefangenen, ach so exotisch wilden Ureinwohner huschen mit Smartphones durchs Bild.
Reich der Phantasmen
Die in schönen Bildern schwelgende, auf vier große Leinwände verteilte Film-Installation „Slow Action“ ist eine 45-minütige, Zeiten und Räume auflösende Reiseerzählung. Gedreht auf Lanzarote, Tuvalu und in Somerset sowie auf der völlig verlassenen, hoch ummauerten Bergbauinsel Gunkanjima vor Nagasaki, schwankt die Anmutung zwischen der Dokumentation historischer Zustände und dem Entdecken aus der Zeit gefallener Orte einerseits und der Vision postapokalyptischer Fiktionen andererseits. Die über die Bilder wandernde Filmerzählung des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors Mark von Schlegell gibt zudem allen vier Orten neue Identitäten und Lebensformen.
Lässt man sich darauf ein (es gibt auch ein Heft mit Übersetzungen), ist das Ganze vielleicht eine zeitgemäße Form der sozialutopischen, aber auch düster-romantischen großen Romane der angelsächsischen Literatur. Denn wo die Wirklichkeit ausgeforscht scheint, bleibt das unermessliche Reich der Phantasmen.
Katja Novitskova: „Dawn Mission“, Ben Rivers: „Islands“, Kunstverein in Hamburg, Di–So 12–18 Uhr. Bis 3. Jul
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