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Liebeserklärung ans Kottbusser TorKotti, mon amour

Das Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg gilt derzeit als gefährlichster Ort Deutschlands. Aber er ist auch der schönste.

Das Kottbusser Tor ist eine Kathedrale des schmutzigen Heiligen: Zwei Männer am 1. Mai halten Andacht Foto: dpa

Du stehst draußen auf dem aufgeheizten Bürgersteig, die kalte Bierflasche in der Hand, um dich herum fünfzig andere, die heute auch nicht früh schlafen gehen wollen. Stimmengewirr und Gelächter – und dort, gegenüber der Bar, sucht ein Fuchs sein Abendessen, mitten in der Stadt. Kann das wahr sein? Dann schaust du nach oben, weil der Mond so hell leuchtet, und bekommst Abfall aus dem achten Stock ins Gesicht. Das ist wahr, weil du vor dem Möbel Olfe stehst, einer Bar am Kottbusser Tor in Berlin. Sie ist im Erdgeschoss eines Hochhauses – und wenn man die Bewohner nachts mit seinem Ausgehgegröle nervt, dann bekommt man was auf die Mütze. Die Polizei rufen, so macht man das vielleicht in Bietigheim-Bissingen.

„When you’re alone and life is making you lonely. You can always go – downtown“ – so besang Petula Clark den Reiz des Urbanen, 1964 war das, und der Song kann auch als eine Antiode an die Ödniss der Vorstädte verstanden werden. Etwa zur gleichen Zeit entstand nun in Berlin eine Städtelandschaft, die man auch als eine Hommage an Sodom und Gomorrah interpretieren kann: die Gegend um das Kottbusser Tor im Stadtteil Kreuzberg.

Das „Neue Kreuzberger Zentrum“ wurde in den Jahren zwischen 1969 und 1974 erbaut, ein Betonensemble, das sogar eine der Zufahrtstraßen überspannt und das zugleich eine Trutzburg sein sollte gegen noch viel mehr Verkehr: Ein ganzes Autobahnkreuz sollte hier errichtet werden. Heute scheinen sich einige zu wünschen, dass es doch bitte rasch gebaut werden möge, auf dass das der „soziale Brennpunkt“ gleich mit verschwinde.

Der „Kotti“ wird in diesen Tagen als ein Ort der brutalistischen Architektur beschrieben, der eine brutalisierte Gesellschaft erzeugt. Von der Süddeutschen bis zum Nordkurier – überall wird über diesen Platz und die dortigen Verhältnisse (Überfälle, Drogen, Müll, Ratten) berichtet. Die Kriminalität sei so stark geworden, dass das Kottbusser Tor „zu kippen“ drohe. Schuld daran: antanzende „Nordafrikaner“.

Warum gehe ich da eigentlich hin?

„Postcolognialismus“ mitten in Berlin, also der Zustand der Republik nach Köln, wenn alles immer schlimmer wird. Blinde werden ausgeraubt, Schwangere zu Boden getreten. Allenthalben wird gedealt, vertickt und wild uriniert.

Sicher ist man als in der Nähe Wohnender ein wenig betriebsblind. Andererseits kennt man eben auch schon einige Diskursfiguren: zu viel Polizei am 1. Mai, zu wenig Polizei wegen Taschendiebstählen. Zu viele Migranten (70 Prozent!), zu wenige Migranten (Gentrifizierung!). No-Go-Areas für Schwule, Pub-Crawl-Alarm und Feinstaub.

Migrantische Großfamilien und LGBTI-Menschen sitzen Tisch an Tisch, ohne dass eine Podiumsdiskussion daraus wird

Liest man die Berichte über das Kottbusser Tor, fragt man sich als Einheimischer: Wie kannst du nur so wahnsinnig sein, dort überhaupt hinzugehen?

Ja, warum geht man dort eigentlich hin?

Vielleicht, weil dort statt Autos auf einem Autobahnkreuz alles aufeinander trifft, was den Reiz Berlins ausmachen kann. Im queeren gastronomischen Gesamtkunstwerk Südblock zum Beispiel sitzt die migrantische Großfamilie Tisch an Tisch mit LGBTI-Menschen, ohne dass gleich eine Podiumsdiskussion daraus wird. Und wenn einem ein fünfjähriger Roma-Junge den Regenschirm klaut – so wie neulich beim Nachmittagskaffee – dann geht man eben hin und klärt das unter Männern. („Das ist der Schirm von meinem Freund, gib ihn mir bitte wieder.“ – „Nein!“ – „Doch.“)

Döner, der seinen Namen verdient

In den türkischen Restaurants am Platz bekommt man Döner, der seinen Namen auch verdient. An einem Stand kann man am späten Abend noch Obst und Gemüse kaufen – ja, es wurde vielleicht ein bisschen zu lange in Abgasen gelagert. Kann man aber abwaschen.

taz.am wochenende

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Man kann sich mitziehen und treiben lassen in einem Strudel aus Menschen und Lärm, ohne zu wissen, wo genau man wieder angespült wird. Im oberirdischen Betonlabyrinth findet man die einzigen original bosnischen Cevapcici; im Gangsystem der sich hier kreuzenden U-Bahnlinien spielt ein Violinist „Die Moldau“ und ein schrammelnder Singer-Songwriter ohne Verstärker.

Man kann auf Terrassen über dem Verkehrsfluss thronen und Shisha rauchen. Überhaupt: Es darf noch geraucht werden! Sogar ohne Filter.

Man kann hier Drogen kaufen und ausgeraubt werden. Man kann hier ganz einfach mal auf die Fresse bekommen. Es gibt Dreck und manchmal auch Ratten. Weniger Sicherheit und Sauberkeit, mehr Saus und Braus. Das Kottbusser Tor, es ist eine aus Beton gegossene Kathedrale des schmutzigen Heiligen. Hier herrscht so ein Durcheinander, dass am Ende niemand Recht hat oder gar die Macht. Am Morgen ist alles wieder anders ist, als es am Abend beschrieben wurde.

„Die kleinen Ärsche werden zuerst gefickt“

Die mediale Debatte manifestiert sich am Kottbusser Tor in Form von Einsatzwagen der Polizei. Also noch eine weitere Gruppe von Menschen, die verhaltensauffällig auf dem Platz herumhängt. „Willst du noch einen Tee?“, ruft der Dönermann in Richtung Mannschaftswagen. Es ist zwölf Uhr nachts an einem Samstag. „Nein, ich bin schon voll bis zum Rand. Danke!“ Der Polizist sieht aus, als würde er jetzt wirklich gern nach Hause.

Nur all die andern hier, die wollen partout nicht nach Hause. Sie wollen den Mond anheulen und den Fuchs sehen. Es sind viele. So viele, dass sich der Fuchs kaum noch heraustraut. Stattdessen sind mehr Taschendiebe gekommen. Weil es hier etwas zu holen gibt.

Ein Samstagabend am Kottbusser Tor, draußen, auf der Terrasse des Café Kotti. Am Nebentisch betrinkt sich eine Gruppe junger Briten, sie spielen „Stadt, Land, Fluss“. Man sitzt hier erhöht, kann auf den Platz blicken, sieht die Hochbahn fast schon angeberisch urban vorbeigleiten – New York!

„Die kleinen Ärsche werden zuerst gefickt“, das hatte mir seinerzeit ein echter Berliner mit auf den Weg gegeben, als ich neu in der Stadt war. Es war nicht als Anmache gemeint, sondern als Warnung: Großstadt kann auch bedeuten, dass es bei aller Abenteuerlichkeit auch mal gefährlich werden kann. Der Platz um das Kottbusser Tor, mag sein, dass es einer der schlimmsten im Lande ist. Das aber liegt daran, dass er zugleich einer der schönsten ist.

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24 Kommentare

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  • LESEN: Beitrag von der Kotti-Runde und Kotti & Co: https://kottiundco.net/2016/04/18/mach-meinen-kotti-nicht-an/

  • LESEN: Beitrag von der Kotti-Runde und Kotti & Co: https://kottiundco.net/2016/04/18/mach-meinen-kotti-nicht-an/

  • So Artikel gab es früher über Harlem oder den Central Park, als New York noch gefährlich war. Klar konnte man da leicht überfallen, zu brei geschlagen oder erschossen werden, aber hey das ist urban culture und auch irgendwie spannend, oder?

  • Gefährlich ist am Kotti vor allem, dass man da leicht seine Wohnung verlieren kann, weil Immobilienkonzerne, um die angestrebten Profite zu realisieren, besserverdienende Mieter_innen brauchen. Wieso wird uns in dem Artikel eigentlich nichts vom Kampf der Mieter_innen der Initiative kotti&Co um ihre Wohnungen erzählt? Weil dann das geklaute Handy so lächerlich wirkt und der Leserin das wohlige Gruseln vergällt wird?

  • 3G
    3053 (Profil gelöscht)

    Also ich mag das kotti auch schon immer sehr gerne. Bin aber fast überrascht wie aufregend es da als zugehen soll. Ob nun so positiv beschrieben wie hier oder negativ wie sonst wo.

     

    Für mich ist da einfach meine Sparkasse und mein Kaisers, ein paar gute Dönerläden und nette Bars.

     

    Am kotti sind immer viele Menschen in dem getümmel fühle ich mich alles andere als unsicher, kann in den letzten Jahren auch keine große Veränderung feststellen… Und wenn Taschendiebe und Drogen den Ort zum "schlimmsten im Lande" machen, wir also sonst nichts zu fürchten hätten das wäre doch schön.

    • @3053 (Profil gelöscht):

      Genau - Schwulenhatz, Raubüberfälle oder Messerstechereien sind kein Grund, sich unsicher zu fühlen. Man muss nur stumpf genug sein und mit Tunnelblick durchs Leben gehen.

  • Berlin ist den meisten Nicht-Berlinern egal. Irgendwelche Plätze in Berlin erst recht.

     

    MfG

     

    Einer der 78,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die nicht in Berlin wohnen.

  • Hauptstadt Berlin - das war der größte Fehler, den Schland seit der Wiedervereinigung gemacht hat. Bonn war optimal, es hat der gernegroßen deutschen Mentalität die nötige Bodenständigkeit beigebracht.

  • 2G
    23912 (Profil gelöscht)

    Ist für mich als Anwohner der Gegend erfreulich, wenn nach Hanah Lühmanns amüsanter und empfehlenswerter Kotti-Ortsbegehung in Die Welt (7.3.16) u.a. "Hundeverbot im Kottiwood", auch hier bemerkt wird, dass 5 x mehr Touristen und Clubs am Kotti entsprechend mehr Taschendiebe anziehen. Und vor allem, dass die bereits seit einigen Jahren im queeren Südblock anzutreffene Unterschiedlichkeit der Gäste sich offenbar für alle sehr entspannend auswirkt. Schließlich ist nur Klein-Posemuckel 100% sicher!

  • Na ja ... Freunde wurden dort in den letzten 6 Monaten mehrfach überfallen.

     

    Wenn am Wochenende die U-Bahnen die Nacht über durchfahren... am Kotti hält man sich nach 24:00 Uhr besser nicht auf.

  • 3G
    30404 (Profil gelöscht)

    Die Familien mit Kindern die dort leben finden dass sicher auch super super geil. Da lernen die Kinder gleich das Leben von der "richtigen" Seite kennen.

     

    Ich finde die ganze Ecke dort einfach nur "Sch...." alleine das durchfahren ekelt schon einen.War auch vor 20 Jahren nicht viel besser. Aber jedem wie es gefällt.

    • @30404 (Profil gelöscht):

      vielleicht solltest du deine kinder nachts nicht so oft auf die strasse schicken!

  • "Im queeren gastronomischen Gesamtkunstwerk Südblock zum Beispiel sitzt die migrantische Großfamilie Tisch an Tisch mit LGBTI-Menschen, ohne dass gleich eine Podiumsdiskussion daraus wird." Für den Satz spende ich einen Euro in die Kaffeekasse. Schöner Artikel, schick ich meiner Mutter ins Allgäu.

  • Einen Platz brauchen die Hauptstadt-Hipster ja, um sich für ein paar Stunden irgendwie urban outlaw zu fühlen, bevor sie sich nach Hause in ihre komfortable Wohnung in ein Viertel begeben, wo sie wieder ungestört unter sich sind und die Kinderwagen 2000.- Euro kosten.

  • Sehr schöner und der Erste zutreffende Artikel, seit diese absurde Diskussion eröffnet wurde!

  • Es ist ja schön diese Verharmlosungsrhetorik, auch ich mochte den Kotti sehr aber so zu tun als gäbe es da aktuell keine ganz neue Qualität, das finde ich nicht hilfreich.

     

    Es ist gerade keine gute Ecke und die kleinkriminelle Gemütlichkeit ist eben etwas von gestern. Der Kotti ist nicht mehr das, was er vor 2 Jahren war oder auch vor einem Jahr.

     

    Letzten Endes heißt Unterstütztung von Multikulturalität ja eben nicht Liebesgrüße an "antanzende" Afrikaner, rumänische Raubstricherbanden und Libanesenclans, sondern die starke Verteidigung der Vielfalt gegen ihre Feinde. Man macht sich sonst lächerlich und die Rechte lacht sich ins Fäustchen.

  • "Sicher ist man als in der Nähe Wohnender ein wenig betriebsblind" - stimmt.

  • 1G
    1326 (Profil gelöscht)

    Aber die Rollkoffer der Touris stören?

    • @1326 (Profil gelöscht):

      :-)

       

      ... man kann die Berliner eben nicht ernst nehmen. Das war schon immer so.

    • 6G
      65572 (Profil gelöscht)
      @1326 (Profil gelöscht):

      Die stören überall.

      • @65572 (Profil gelöscht):

        Außer natürlich die aus Berlin, wenn sie im Rest der Welt rumrollen.

        • @DR. ALFRED SCHWEINSTEIN:

          echte berliner benutzen keine rollkoffer! wenn du n berliner mit rollkoffer triffst, ist das immer n zugezogener aus der provinz. rollkoffer sind spiesser-accessoires für provinzler!

          • 6G
            65572 (Profil gelöscht)
            @hsni:

            Dummerweise ist die Provinzlerquote mittlerweile auf 99% gestiegen.