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Soziale Dystopien

KINO Das aktuelle Programm der Fantasy Filmfest Nights betrachtet die Verwerfungen unserer Beziehungen

„The Lobster“ erzählt auf satirische Weise von einer zukünftigen Welt, in der die Menschheit alle Lust an Emotion verloren hat Foto: Sony Pictures

von Thomas Groh

Wenn sich das phantastische Kino zumindest in seinen besseren Momenten tatsächlich als allegorisch verdichteter, mal dia­gnostischer, mal prognostischer Kommentar zum Zeitgeschehen verstehen lässt, beunruhigt das aktuelle Programm der Fantasy Filmfest Nights noch mehr, als man es von einem auf Horror-, Science-Fiction- und Actionkino spezialisierten Festival erwarten darf. Denn neben den üblichen, jeweils jedoch sehr ­eigenen Genrestandards – vom durchgeknallten Weirdo-Movie ( „Moonwalkers“) über Hexengothic (“The Witch“) und Virus-Apokalypsen („Pandemic“) bis zu asiatischen Gangsterballereien („Veteran“) – schält sich in einigen der avancierteren Filme ein bemerkenswerter Schwerpunkt heraus. Folgt man nämlich Yorgos Lanthimos’ „The Lobster”, Brian Wheatleys Ballard-Adaption „High-Rise“ und Stephen Fingletons „The Survivalist“, steht es im weiten Feld der sozialen Beziehungen derzeit nicht zum Besten.

In seinem ersten englischsprachigen, mit Colin Farrell prominent besetzten Film „The Lobster“ etwa imaginiert sich der griechische Auteur Lanthimos eine Gesellschaft, in der der Singlestatus so anrüchig ist, dass frisch Verlassene in eine entlegene Hotelanlage verfrachtet werden, wo sie sich unter drakonisch-disziplinierenden Auflagen binnen kurzer Zeit aufs Neue verlieben und eine neue Partnerschaft vorweisen müssen. Ansonsten werden sie buchstäblich zur Sau bzw. zu einem Tier ihrer Wahl gemacht. Draußen in den Wäldern lauern unterdessen bewaffnete Rebellen, die sich der Zwangsverpaarung durch Flucht entzogen und aus dem Singledasein eine mit nicht minder dogmatischem Ernst verfolgte Angelegenheit gemacht haben.

Der auf die Skurrilität, sanft verfremdete Sozialkonventionen setzende, lakonische Humor hat etwas vom späten Buñuel. Lesen lässt sich Lanthimos’ in mitunter skulptural-wuchtige Bilder gegossene Parabel auch als gallig-trockener Kommentar zur gängigen, neurotischen Fetischisierung des Konzepts der Paarbeziehung, dem Lanthimos humanistische Gelassenheit entgegensetzt.

Wo „The Lobster” manchmal etwas in barockes Kunstgewerbe abrutscht, ist „The Survivalist” ein Filetstück in Sachen ökonomisch erzähltem, existenziellem Kino. Mit wenigen Strichen zeichnet Langfilmdebütant Fingle­ton einen postapokalyptischen Erzählkosmos, in dem der fortgeschrittene Zivilisationsverlust zwischenmenschliche ­Beziehungen gründlich paranoisiert und sich selbst noch in Zweckgemeinschaften im Kampf um die verbliebenen Ressourcen profundes Misstrauen breitmacht. Nahezu kammerspielartig schildert Fingle­ton den Alltag eines Überlebenden, der in einer Waldhütte sein karges Dasein organisiert und schließlich mit einer älteren Frau und deren Tochter konfrontiert ist, die um Einlass und Essen bitten. Fingleton nutzt seine spärlichen Mittel konzentriert, er skizziert seine Welt eher latent als manifest – und empfiehlt sich damit als Regisseur, den man als Freund erwachsener Genrefilme im Auge behalten sollte.

„The Survivalist“ ist ökonomisch erzähltes, existenzielles Kino

Räumlich ebenfalls sehr restriktiv fällt „High-Rise“ aus, mit dem Ben Wheatley, seit seinem Durchbruch mit „Kill List“ (2011) Liebling der Genrefans und Dauergast beim Fantasy Filmfest, J. G. Ballards gleichnamige literarische Architekturdystopie von 1975 als Produktionsdesign-Spektakel für Freunde der 70s-Ästhetik ins Bild setzt. Die totale Komfort-Utopie eines durchgeplanten, brutalistischen Hochhauskomplexes, der seinen Bewohnern – oder Insassen? – eine perfekt ausstaffierte Lebenswelt bis an die Grenze zur Ausblendung der restlichen Gesellschaft verspricht, mündet in kürzester Zeit in den Albtraum einer von Klassenhass, Neid, Dekadenz und klaustrophobisch herangezüchtetem Wahnsinn zerfressenen, sich kannibalisch zerfleischenden Hausgemeinschaft. Mit Kubrick- und Cronenberg-Anspielungen reich gespickt, verliert sich der Film zwar zuweilen ein bisschen im Diffusen seiner Allegorie-Absichten, lässt aber in all seinem Ausstattungsexzess immer wieder auch mal schöne Spitzen eines kontrolliert zur Sprengung gebrachten ­Dystopie-Wahnsinns aufblitzen.

Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Dynamiken ist man gut beraten, die gegenwärtigen Sozialdystopien des fantastischen Kinos mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten.

Fantasy Filmfest Nights: 9. und 10. April, Cinestar Sony Center, www.fantasyfilmfest.com

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