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Traurig, schlafend, tot

RETROSPEKTIVE Zwischen Nostalgie und Skurrilität: Die Reihe „The Revolution That Wasn’t – Russische Dokumentarfilme 1991–2015“ im Arsenal liefert Stoff für eine Erkundung der postsowjetischen Ära

Die Feinde von Pussy Riot: Szene aus „The Term“ Foto: Arsenal Institut

von Fabian Tietke

Im Sommer 1990, wenige Monate vor der Auflösung der Sow­jetunion, sang Viktor Coj, der Sänger der Band Kino: „Ich dreh den Fernseher ab/ Ich schreib dir einen Brief/ Dass ich den ganzen Mist nicht mehr sehen kann/ Dass ich keine Kraft mehr hab/ Bald wird dieser Sommer enden/ Dieser Sommer.“ Coj erlebte das Ende der Sowjetunion nicht mehr, er verunglückte am 15. August 1990 bei einem Autounfall in Lettland. Sechs Tage später erklärte sich nach Litauen und Estland auch Lettland für unabhängig. Im Laufe der anderthalb Jahre bis zum 26. Dezember 1991 zerfiel die Sowjetunion.

Nun blickt eine Filmreihe im Arsenal, kuratiert von Tatiana Kirianova, unter dem Titel „The Revolution That Wasn’t“ zurück auf 25 Jahre Russische Föderation im Spiegel unabhängiger Dokumentarfilme. Mitten in der Umbruchszeit 1990/91 drehte Aleksandr Sokurov zwei Filme über Boris Jelzin. Einer der beiden, „Example of Intonation“, eröffnet die Reihe im Arsenal.

Tee und Zucker

Boris Jelzin war seit dem Sommer 1991 Präsident der russischen Teilrepublik. Nähe ist der zentrale Begriff für „Primer intonatsii“. Die Bilder Jelzins von einem Spaziergang durch einen winterlichen Wald, auf einer Parkbank, in Jelzins Datscha sind erstaunlich frei von Inszenierung. Als die Enkelin nach Ketchup verlangt, sagt Jelzin: „In welchem Land lebst du denn? Ketchup? Tee und Zucker ist doch gut genug.“ In langen Einstellungen der Gespräche mit Jelzin, unterbrochen von einigen Fotos ländlicher Armut aus der Sowjetunion der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gelingt Sokurov nicht nur ein beeindruckendes Por­trät des Staatsmanns, sondern – im Rückblick – auch der Entstehungszeit des Films.

Vergleicht man die Bilder aus „Example of Intonation“ mit denen Putins aus Vitaly Manskys Porträt des russischen Präsidenten „Putin. The Leap Year“ von 2001, ist der Unterschied frappierend: Wo Jelzin fast ärmlich wirkt, blinken und blitzen bei Putin die Holzvertäfelung und der vergoldete Stuck. Wo Jelzin gegenüber Sokurov Offenheit auch in Bezug auf die eigenen Schwächen zeigt, muss Manskys Film Putin die raren Momente abtrotzen, in denen der Mensch hinter der Fassade aufscheint.

Die Reihe fügt Filmpositionen zusammen, die bisher vereinzelt zu sehen waren. Askold Kurovs „Leninlend“ (Leninland), der als spöttische Erkundung eines Lenin-Museums beginnt und sich unversehens zur interessanten Auseinandersetzung über den Umgang mit der sowjetischen Vergangenheit zwischen Nostalgie und Skurrilität mausert.

Parteichef und Sohn

Filme zu Oppositionsbewegungen wie Aliona Poluninas „The Revolution That Wasn’t“ über den stellvertretenden Parteichef der unterdessen verbotenen national-bolschewistischen Partei und dessen Sohn; „The Term“ von Pavel Kostomarov, Alexej Pivovarov und Alexander Rastorguev, dessen Ziel es war, die Protagonisten der Oppositionsbewegung in Russland nach Putins Wiederwahl zum Präsidenten zu porträtieren.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt die Reihe der Erkundung der Provinz. So steht ein Doppel aus Sergej Dvortsevoys „Bread Day“ und Sergej Loznitsas „Artel“ auf dem Programm. Der erste über den Tag einer Brotlieferung in die abgelegene Provinz, der zweite, dessen Titel sich frei mit Dorfgemeinschaft übersetzen ließe, über das Leben von Fischern im hohen Norden Russlands. Olga Privolnovas „Zvizzhi“ über ein kleines Dorf unweit eines hippen Architekturfestivals. In unmittelbaren Bildern dokumentiert Privolnova das Leben der Dorfbewohner. Das Filmplakat wirbt mit ihrer Selbstbeschreibung: „So sind wir hier: traurig, am Schlafen, tot und dann weg.“

Der neueste Film ist Sergej Loznitsas „Sobytie“ (The Event, 2015), in dem der Regisseur schwarzweißes Filmmaterial aus der Zeit des Augustputsches 1991 in St. Petersburg (damals noch Leningrad) montiert. Wie Sokurovs „Primer intonatsii“ hat auch „Sobytie“ etwas Unheimliches beim Sehen. Das Driften der Kamera durch unzählige Menschen auf der Straße, eine Mischung aus Unschlüssigkeit, spontaner Organisierung um einen Redner, um ein Radio herum. Diese Bilder aus der Anfangszeit des Putsches haben einen fühlbaren Überschuss. Ein Überschuss, der auf die Entladung wartet und – auch das zeigt der Film – zunehmend kanalisiert wurde.

Bis 30. April im Kino Arsenal, Sergej Loznitsa und zahlreiche andere Regisseure werden zur Reihe anwesend sein

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